In bisher 14 Jahren als Uno-Mitarbeiter bin ich nur ganz selten mit Korruptionsversuchen konfrontiert worden. Zum ersten Mal geschah dies im drückend heissen Prunksalon des Aussenministeriums in Dhaka, der Hauptstadt von Bangladesh. Ich war Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. Der Minister hatte indischen Konzernen in den Mangrovensümpfen am Rande des Golfs von Bengalen erlaubt, riesige Garnelen-Zuchtbetriebe aufzubauen. Das trieb Tausende bengalische Fischerfamilien in den Ruin.
KORRUPTION. Ich wollte den Vertrag sehen. Der Minister, ein dickleibiger Mann, der zu den wichtigsten Textilmagnaten des Landes gehörte, wich immer wieder aus. Plötzlich sagte er: «Mein Unternehmen veranstaltet regelmässig hochkarätig besetzte Konferenzen. Wir bezahlen unsere Redner gut. Hätten Sie noch Platz in Ihrem Terminkalender?» Ich stand auf und verliess völlig undiplomatisch den Raum. Die Lieferanten der Textilkonzerne der Welt beherrschen die Politik des 150-Millionen-Volkes. Dhaka ist umzingelt von grauen, vielstöckigen Betonkasernen. Unter unmenschlichen Bedingungen und zu Hungerlöhnen nähen dort Zigtausende unterernährter Frauen und Mädchen Kleider für die Konsumentinnen und Konsumenten in Nordamerika, Japan und Europa. Die auch von Schweizer Nicht-Regierungsorganisationen getragene «Clean Clothes Campaign» (Kampagne für saubere Kleider) hat folgende Rechnung aufgemacht: Ein Paar Jeans, die das Unternehmen Spectrum Sweater in Dhaka nähen lässt, wird in Genf für 66 Franken verkauft. Davon erhält die bengalische Näherin 35 Rappen. Im Morgengrauen des 24. April 2013 stürzte in Savar, einem Vorort von Dhaka, eine dieser Kasernen ein. Ihr Besitzer Mohammed Sohel Rana hatte vor ein paar Monaten sein siebenstöckiges «Rana Plaza» ohne Baubewilligung um zwei zusätzliche Stockwerke erhöht. Mehr als 650 Arbeiterinnen und Arbeiter starben. Hunderte, die aus den Trümmern geborgen wurden, verloren Arme oder Beine. Die Katastrophe ist nur eine in einer ganzen Serie. Immer wieder stürzen die baufälligen Kasernen zusammen oder brennen aus. Immer wieder sterben Hunderte. Nur wenige Familien erhielten bisher Entschädigungen. Keiner der Textilmogule wurde bisher bestraft.
MENSCHENWÜRDE. Wo ist die Hoffnung? In Europa. Auch in der Schweiz. Nur wenn die «Clean Clothes Campaign» gegen die «blutigen Kleider» vorankommt, haben die Textilarbeiterinnen Aussicht, endlich gewerkschaftlichen Schutz und mehr als minimale Löhne zu erhalten. In der Schweiz hat die entwicklungspolitische Organisation Erklärung von Bern eine Petition beim Parlament eingereicht. Sie will die Konzerne für Menschenrechtsverletzungen ihrer Zulieferer gesetzlich verantwortlich machen. Ob dieser Kampf für universelle Menschenwürde siegreich sein wird, hängt ab von jedem Einzelnen von uns.
Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor. Sein neuestes Buch, «Wir lassen sie verhungern», ist im September 2012 auf deutsch erschienen.
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