Gewerkschaften neu denken — Sozialismus ins Auge fassen
In den USA und Europa sind die Gewerkschaften in einer umfassenden Krise. Sie haben sich dem Neoliberalismus als spezifische Form kapitalistischer Herrschaft untergeordnet. Solange die Gewerkschaften ihren Partikularismus und ihr Co-Management-Denken für bestimmte Kategorien von Lohnabhängigen nicht ablegen (zu Gunsten sozialistischer Ziele) und somit einer Strategie der Vertretung der Gohnabhängigen im breitesten Sinne aufgeben, werden sie sich nicht erneuern können. Der nachstehende Beitrag nennt Anknüpfungspunkte, wie Organisationen der Lohnabhängigen ein umfassendes Klassenverständnis entwickeln können.
Im Folgenden ist nur die Einleitung und die Schlußfolgerung nachgedruckt. Dazwischen gibt es noch 17 Seiten Ausführungen. Der vollständige Original-Artikel steht in der gerade herausgekommen Halbjahresbroschüre "emanzipation", Nr 5 - Sommer 2013. Thema der 5 Autoren: "Ist die alte Arbeiterbewegung tot?". Das Heft kann für 7 € zuzüäglich Porto bei dem Soz-Verlag unter email buero@soz-verlag.de bestellt werden
SAM GINDIN Nachdem die Gewerkschaften drei Jahrzehnte hindurch als gesellschaftliche Kraft geschwächt wurden, können wir ihre im Großen und Ganzen blutleere Reaktion auf die große Finanzkrise nur noch konstatieren. Sie haben es verpasst, die goldene Gelegenheit zu ergreifen, die durch die Occupy-Bewegunggeschaffen wurde. Diese hat bewiesen, dass kühne Aktionen einen populistischen Nerv berühren können. Die Gewerkschaften hingegen haben mit ihrer Strategie zur Abwahl des Gouverneurs in Wisconsin 2012 über ein Jahr nach der vorbildlichen Besetzung des Parlamentsgebäudes in Madison, allerdings sechs Monate vor dem Beginn von Occupy Wall Street eine Niederlage eingefahren. Die Linke ist heute nun mit der beunruhigenden Frage konfrontiert: Ist ei¬ne Verjüngung der Gewerkschaften wirklich noch möglich, oder haben sie aufgehört, eine wirksame historische Organisationsform zu sein, in der sich die Lohnabhängigen organisieren? Um es klar zu sagen: Die Frage lautet nicht, ob Gewerkschaften und gewerkschaftlich geführte Kämpfe dabei sind zu verschwinden. Die Gewerkschaften werden torkeln, manchmal sehr heldenhaft. Sie werden weiterhin Lohnabhängige organisieren, über Tarifverträge verhandeln und sich um Missstände kümmern. Sie werden auch weiterhin streiken, Protestmärsche organisieren, demonstrieren und uns bei Gelegenheit an die Potenziale erinnern, die in der Arbeiterklasse stecken. Aber die Gewerkschaften, wie sie gegenwärtig existieren, scheinen nicht mehr in der Lage zu sein, angemessen auf das Ausmaß der Probleme zu reagieren, mit denen die Arbeiterklasse konfrontiert ist — gleich ob am Arbeitsplatz, am Verhandlungstisch, in der lokalen Gemeinde, in der Wahlpolitik oder in der ideologischen Debatte.' Ein aktuelles Symposium zum Thema Gewerkschaften in den entwickelten kapitalistischen Ländern kam zum Schluss, dass der rückläufige Trend überall sichtbar ist (Baccaro 2010; siehe auch Urban 2011).
Dieser Aufsatz konzentriert sich jedoch auf die Sackgasse der US-Gewerkschaften.
Das letzte Mal, als die US-Arbeiterklasse in den 1930er Jahren mit einer vergleichbaren wirtschaftlichen und innenpolitischen Krise konfrontiert war, führte dies in der Folgezeit zu einem Aufschwung der Industriegewerkschaften. Welche neuen Formen der Organisation der Arbeiterklasse könnten sich in heute eine Bahn brechen? Damals waren Kommunisten und Sozialisten entscheidend für die Bildung und Orientierung der Gewerkschaften, zu einer Zeit als radikale Organisatoren von der Vorstellung inspiriert wurden, dass die Lohnabhängigen die historischen Akteure einer neuen Gesellschaft und die Gewerkschaften Schulen für den Sozialismus werden könnten. Ist es im Lichte der jüngsten Geschichte immer noch glaubwürdig, dass die arbeitenden Menschen eines Tages im Zentrum radikaler gesellschaftlicher Veränderungen stehen? (Fletcher Jr. 2004.) Solche Fragen sind nüchtern, nicht defätistisch zu stellen. Formuliert im Geiste: «ohne Illusionen, aber nicht desillusioniert», bringen sie zum Ausdruck, was anzupacken ist, wenn man die Erneuerung der Gewerkschaften und der Arbeiterklasse ernsthaft angehen und näher betrachten will, wie der Zustand der Gewerkschaften und einer Linken, die über den Kapitalismus hinaus gehen will, zusammen passen. Die Kluft zwischen der sozialistischen Idee auf der einen, ihren organisatorischen Kapazitäten und den Stimmungen der Bevölkerung auf der anderen Seite, scheint vorerst —vor allem, aber nicht nur, in Nordamerika — jede Massenrekrutierung von Lohnabhängigen und jungen Aktivisten für eine explizit sozialistische Partei oder selbst eine explizit parteiähnliche Formation auszuschließen. Dies legt uns ein scheinbar bescheideneres Projekt nahe: Wie können die Gewerkschaften noch einmal als wirksame reformistische Organisationen dienen und — damit unmittelbar zusammenhängend — wie kann die sozialistische Idee noch einmal Teil einer ernsthaften politischen Debatte werden? Im heutigen Kontext derart zurückhaltende Ziele zu verwirklichen, macht es erforderlich, radikale Perspektiven und institutionelle Innovationen in den Kampf einzubringen und da¬mit neue Möglichkeiten für die Wiederherstellung einer relevanten Linken zu schaffen. Ein grundlegendes Hindernis hierfür ist der seit langem kritisierte Sachverhalt, dass die Gewerkschaften in ihrem Kern bereichsspezifische Organisationen sind: Obwohl sie aus der Arbeiterklasse entstanden sind, repräsentieren sie nicht die Klasse als Ganze.2 Dies ist wahrscheinlich nicht allein durch eine interne Dynamik in den Gewerkschaften zu ändern. Wir können auch nicht erwarten, dass plötzlich neue Parteien der Arbeiter-Klasse entstehen, um das Problem zu lösen. Möglich und dringend erforderlich ist die Schaffung neuer intermediärer Institutionen — mehr als Gewerkschaften, weniger als eine Partei —, die sich der Konstituierung der Arbeiterklasse als soziale Kraft verpflichten sehen, sowohl am als auch außerhalb des Arbeitsplatzes.
Neoliberalismus und Fatalismus.... .............................
Schussfolgerung
Bald nach der Einführung des Autofließbands erklärte der Vorsitzende des Departments für Soziologie (sic) von Henry Ford frech: «Mr. Fords Geschäft ist die Schaffung von Menschen, und er stellt Auto, her, um seine Kosten zu decken» (Lewchuk 1993). Die Schaffung von Menschen" für die spezifischen Anforderungen des Kapitals war in der Tat eine der wesentlichen Herausforderungen und Erfolge des Kapitalismus. Und das wirft die für Sozialisten gewaltigste Frage auf: Können wir wirklich erwarten, dass Lohn¬abhängige eine alternative Gesellschaft in Erwägung ziehen, geschweige denn erreichen, wenn sie vom Kapitalismus so geprägt und begrenzt sind, ihre Kapazitäten so fragmentiert und verengt sind, ihre Phantasie privatisiert und ihre Erwartungen verwelkt sind, wenn ihre Abhängigkeit von Bossen und Eliten sich täglich bestätigt und sie die Aufgabe von Gestaltungsmacht durch den Konsum von Waren kompensieren? Wir können in den zahlreichen Widersprüchen des Kapitalismus Hoffnung, in den vielen Taten erlebter Menschenliebe und Solidarität Optimismus und in der Kontinuität des Widerstands der Bevölkerung Bestätigung finden. Aber die Geschichte behauptet unerbittlich, dass ein schmerzlich langer Weg Widerstand und gesellschaftlichen Wandel trennt, und dass uns bislang kein überzeugender Beweis, dass Sozialismus möglich oder gar unvermeidbar sei, tröstet. Das Beste, was man sagen kann, ist, dass es auch keinen Beweis für seine Unmöglichkeit gibt. Sozialismus ist eine bedingte Idee, die darauf beruht, dass eine breit verstandene Klasse der Lohnabhängigen dahin kommt zu erkennen, dass die im Kapitalismus tolerierten persönlichen Kosten, die beiseite geschobenen Träume und die Kapitulation vor willkürlicher Autorität verschwendete Opfer waren und sind — und mit dieser Erkenntnis zu handeln beginnt. Lohnabhängige können den Funken für neue Möglichkeiten zünden oder auch nicht. Aber wenn Sozialismus möglich ist, ist er es nur, wenn sich die Klasse der Lohnabhängigen ins Zentrum der Kämpfe bewegt. Ist diese Behauptung der Möglichkeit nicht nur eine säkulare Variante eines religiösen Glaubens? In dem Maße wie das bedeutet, auf unsicherem Boden und ohne Erfolgsgarantie zu handeln, ist in der Tat ein Quantum Glauben im Spiel. Aber der grundlegende Unterschied ist der, dass Emanzipation nicht von einer höheren, äußeren Kraft, sondern aus menschlichem Handeln erwartet wird, und dass das sozialistische Projekt sich nicht über die materielle Wirklichkeit hinwegsetzen kann. Es unterliegt dem Praxistest und muss sich an neuen Kenntnissen messen, daher ständig modifiziert werden. Diese Möglichkeit spielt sich innerhalb der Geschichte ab. So gesehen kann es scheinen, geht man von aktuellen Beobachtungen aus, dass die «menschliche Natur» die Unwahrscheinlichkeit des Sozialismus bestätigt. Aber die Frage, wie Gramsci sie formulierte, lautet nicht: «Was ist der Mensch?», sondern «Was kann der Mensch werden?» In diesem Sinne wird das Projekt, die Welt zu erneuern, nicht nur innerhalb der Geschichte gemacht, sondern es fordert die Geschichte auch heraus. Es ist abhängig davon, was Menschen lernen (und verlernen), von den Entscheidungen, die sie treffen und ihren kollektiven Fähigkeiten, neue Strukturen sowohl für die eigene als auch für die gesellschaftliche Umwälzung zu erfinden. Dies schließt die existenzielle Wahl ein, unser Leben so zu leben, als ob das Poptenzial der Arbeiterklasse, eine neue Welt zu schaffen, tatsächlich Wirklichkeit werden könnte."
Sam Gindin war Forschungsdirektor der kanadischen Abteilung der United Auto Workers (UAW) und danach Chefökonom und Assistent des Präsidenten der Canadian Auto Wor-kers (CAW), nachdem diese unabhängig von der US Gewerkschaft wurde. 2000 zog sich Gindin von der CAW zurück. Seither unterrichtet er am Political Science Department der York University in Toronto. Er arbeitet eng mit Leo Panitch, einem der Herausgeber der Zeitschrift Socialist Register, zusammen. Der vorliegende Beitrag wurde erstmals im Jahrbuch Socialist Register 2013 mit dem Titel «Rethinking Unions, Registering Socialism» (S. 26-51) publiziert (Übersetzung: Christian Zeller). Wir danken Sam Gindin, der Redaktion von Socialist Register und Merlin Press für das kostenlose und nichtexklusive Recht, den Beitrag ins Deutsche zu übersetzen und zu pu¬blizieren. Socialist Register kann beim USA Verlag in Hamburg (www. vsa-verlag. de) bezo¬gen werden. Online-Ausgaben sind erhältlich bei Merlin Press (www. merlinpress. co. uk).
|