Der gescheiterte „Deal“ Senkung der Medikamentenpreise für die Länder des Südens
Über den erleichterten Zugang von Dritt-Welt-Ländern zu patentgeschützten Medikamenten sei eine Einigung gefunden. Das gab die Spitze der Welthandelsorganisation WTO am 30. August bekannt, eine Woche vor der WTO-Ministerkonferenz in Cancun. Die Medien feierten diese Einigung als grosse Konzession der Pharmaindustrie und als Sieg der Länder des Südens. In Wirklichkeit ist jedoch Skepsis angebracht. Der Kampf für eine Senkung der Medikamentenpreise für die Länder des Südens muss jedenfalls weiter gehen.
von Hans Schäppi
Hans Schäppi ist stellvertretender Zentralsekretär der Gewerkschaft GBI und Präsident des Solifonds
Während die Gewerkschaften und NGO`s in Europa im Zusammenhang mit dem GATS-Abkommen, welches den Weg zur Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen öffnet, ein kritischeres Verhältnis zur Welthandelsorganisation WTO entwickelt haben, ist für die Länder des Südens das TRIPS-Abkommen mindestens so schädlich und problematisch. Das TRIPS-Abkommen (Agreement on Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights) wurde nach der Uruguay-Runde l994 bei der Gründung der WTO abgeschlossen und sichert die Rechte auf geistiges Eigentum, d.h. den Patentschutz. Im Gegensatz zu Abkommen über den Umweltschutz, wie etwa die Konvention zur Biodiversität, die im Rahmen der UNO abgeschlossen und bis heute von den USA nicht unterzeichnet worden ist, besitzt das TRIPS-Abkommen auf Grund der Sanktionsmöglichkeiten der WTO eine viel höhere Verbindlichkeit.
TRIPS: Das schädlichste WTO-Abkommen für die Dritte Welt
Eine Besonderheit des TRIPS-Abkommens ist, dass es nicht eine Handelsliberalisierung zum Gegenstand hat, sondern den Schutz von Monopolen. Es zeigt deutlich, dass es bei den WTO-Abkommen nicht um eine Förderung des Welthandels geht, und schon gar nicht um dessen nachhaltige Entwicklung, sondern um die Sicherung der Vorrechte der multinationalen Konzerne der Länder des Nordens. Dazu einige Zahlen: 72% der Weltbevölkerung verfügen heute über 7% der Medikamente (USA 42%, EU 26%), und 97% aller Pharmapatente sind im Besitz der multinationalen Konzerne der Industrieländer. In den Dritt-Welt-Ländern, und heute dank den Auswirkungen der neoliberalen Politik auch in ehemals reichen Ländern wie Argentinien, sterben Tausende von Menschen täglich an heilbaren Krankheiten, weil sie nicht über die nötigen Medikamente verfügen. Die Hälfte davon sind Kinder.
Von Seiten der WTO und der Pharma-Multis wird das TRIPS-Abkommen damit gerechtfertigt, dass nur eine durch Patente gesicherte Abgeltung der hohen Forschungs- und Entwicklungskosten eine weitere Innovation im Pharmabereich garantiere. Innovationen seien aber, wie die Pharmaindustrie selbst, ein wichtiger Pfeiler des wirtschaftlichen Wachstums. Auch sichere nur der Patenschutz den Technologietransfer und ausländische Direktinvestitionen in die Länder des Südens. Kritisiert hingegen wird das TRIPS-Abkommen gerade von diesen Ländern und von sozialen Bewegungen im Bereich der Gesundheitspolitik. Oekonomisch gesehen diene das TRIPS-Abkommen der Monopolisierung von Preisen und Gewinnen. Die Monopole der multinationalen Konzerne auf Technologien würden den Technologietransfer in Dritt-Welt-Länder nicht fördern, sondern behindern. Kritisiert wird das TRIPS-Abkommen aber auch aus anderen Gründen: Es fördere die Einschränkung der Biodiversität, es missachte das traditionelle Erfahrungswissen der Bauern sowie der indigenen Völker und begünstige die „Biopiratierie“. Zudem erlaubt es die Patentierung von Leben.
Das TRIPS-Abkommen im DOHA-Programm
Im November 2001 machten die Industrieländer an der Ministerkonferenz von DOHA den Ländern des Südens einige Konzessionen in Bezug auf das kritisierte TRIPS-Abkommen, um zu einer Einigung zu kommen. Verschiedene Punkte des Abkommens sollten auf ihre Auswirkungen überprüft werden, so etwa auf die Umweltwirkung und den Technologietransfer. Ebenfalls überprüft werden sollten die Auswirkungen von Art. 27.3b, welcher eine Patentierung von Leben erlaubt. Geprüft werden sollten weiter Massnahmen zum Schutz des bäuerlichen Erfahrungswissens und das Verhältnis zwischen der UNO-Konvention zur Biodiversität und dem TRIPS-Abkommmen. Als wichtigste Konzession verabschiedeten die Minister in DOHA eine Absichtserklärung zur Gesundheitspolitik von Dritt-Welt-Ländern. Diese Erklärung hält fest, dass der Schutz der Gesundheit Vorrang vor dem Patentschutz hat. In Paragraf 6 der Erklärung wurde als wichtige Neuerung festgehalten, dass auch diejenigen WTO-Mitgliedsländer, die über keine oder nur ungenügende Produktionskapazitäten im Pharmabereich verfügen, die also Medikamente hauptsächlich importieren müssen, vom Instrument der Zwangslizenzen Gebrauch machen können. Das Mittel der Zwangslizenz erlaubt es einem Land, Medikamente zu produzieren oder zu importieren, ohne einem Pharmakonzern Lizenzgebühren zu zahlen. Gemäss Art. 31 des TRIPS-Abkommens kann unter ganz bestimmten Umständen der Patentschutz im öffentlichen Interesse durch die Erteilung von Zwangslizenzen ausser Kraft gesetzt werden, aber nur, wenn die betreffenden Medikamente hauptsächlich für den eigenen Binnenmarkt bestimmt sind. Für viele Dritt-Welt-Länder ist eine Lösung dieses Problems durch Zwangslizenzen von grosser Bedeutung. Gegenwärtig können sie noch billige Generika aus Ländern wie Brasilien oder Indien beziehen. Ab dem Jahr 2005 werden aber alle WTO-Mitgliedesstaaten ausser den ärmsten Entwicklungsländern - so auch Indien und Brasilien - verpflichtet sein, das TRIPS-Abkommen zu respektieren, was ihnen ohne ein Zusatzabkommen nicht mehr erlauben wird, aufgrund von Zwangslizenzen produzierte Generika in andere Länder zu exportieren.
In DOHA gab die Ministerkonferenz den klaren Auftrag, für dieses Problem bis Ende 2002 eine Lösung zu finden. Im Dezember 2002 schlug der Vorsitzende des TRIPS-Beirats, der Brasilianer Motta, eine Kompromisslösung vor, welche die Erteilung von Zwangslizenzen für den Import von Medikamenten unter folgenden Bedingungen erlaubt: Erstens muss eine solche Zwangslizenz bei der WTO beantragt werden, zweitens müssen die Produktionskpazitäten des betreffenden Landes im Pharmabereich ungenügend sein, und drittens müssen Massnahmen zur Verhinderung des Wiederexports der importierten Medikamente ergriffen werden. Fast alle WTO-Mitglieder hiessen den Motta-Vorschlag gut. Nur die USA lehnten in als zu weitgehend ab.
Der Versuch, das Kalb zweimal zu verkaufen
Es ist sicher kein Zufall, dass am 30. August, eine Woche vor der WTO-Ministerkonferenz in Cancun, der Chairman der WTO mit der Botschaft an die Oeffentlichkeit trat, dass nun ein Kompromiss gefunden worden sei, dem selbst die USA zustimmen könnten. Dieser bestand darin, dem Motta-Vorschlag vom Dezember 2002 noch einige Einschränkungen hinzuzufügen, wie die Erklärung, dass mit dem Import von Medikamenten keine industriellen und kommerziellen Zwecke verfolgt werden dürfen, dass die Importe durch spezielle Verpackungen, Farben und Formen gekennzeichnet werden müssen, und dass die WTO-Staaten das Recht haben, die Rechtmässigkeit solcher Zwangslizenzen zu überprüfen.
Was hat aber den Präsidenten der USA, dessen Wahlkampagne von Big-Pharma – darunter übrigens auch Schweizer Pharmakonzerne - kräftig gesponsert worden ist, zur Zustimmung zu einem solchen Kompromiss bewogen? Erstens hoffte er wohl, damit einen Schandfleck der US-Regierungspolitik auf billige Weise zu übertünchen und seine Regierung sowie die US-Pharmaindustrie etwas aus der Schusslinie der NGO`s zu nehmen. Wichtiger aber war der Versuch, diese Einigung den Dritt-Welt-Ländern an der Ministerkonferenz von Cancun ein zweites Mal als grosse Errungenschaft zu verkaufen – wie schon in Doha, um sie zu Konzessionen gegenüber den Industrieländern zu bewegen. Bezeichnenderweise versuchte die WTO bei der Erarbeitung des Kompromissvorschlags, grosse Länder wie Brasilien und Indien in einer Arbeitsgruppe einzubinden. Sicher nicht nur bei uns in der Schweiz wurde so nach dem 30. August die Einigung in der Presse als grosser Erfolg für die Entwicklungsländer gefeiert. Die NZZ zum Beispiel widmete der Einigung ganze Seiten. Felix Addor vom Schweizer Branchenverband ‚Interpharma’ freute sich am 11. September in der NZZ über „Mehr Generika für die Dritte Welt“- allerdings nicht ohne zu betonen, dass für die katastrophalen Zustände des Gesundheitswesen in diesen Ländern nicht der Patentschutz oder die Pharmaindustrie verantwortlich seinen. Und Thomas Cueni, der Generalsekretär von ‚Interpharma’, strich in einem NZZ-Artikel unter dem Titel „Grosse Konzessionen der Pharmaindustrie“ die Grosszügigkeit der Pharmamultis heraus, da ja niemand garantieren könne, dass zu viele und die falschen Kranken von den Zwangslizenzen profitieren könnten. Was wir befürchtet haben, trat in Cancun aber nicht ein: Die Länder des Südens haben es abgelehnt, dasselbe Kalb nicht nur zu einem völlig übersetzten Preis, sondern gleich zweimal zu kaufen. Und sie haben sich nicht einmal den Rat der NZZ zu Herzen genommen, dass „für die Länder des Südens Fortschritte in der anstehenden WTO-Liberalisierungs-Runde viel bedeutsamer seien als alle Vereinbarungen in Sachen Zwangslizenzen.“
Was taugt der Kompromiss?
Was der Kompromiss vom 30. August den ärmsten Dritt-Welt-Ländern wirklich bringt, wird man erst später beurteilen können. Skepsis ist berechtigt, denn der Kompromiss ist so kompliziert und hat so hohe Kosten - etwa für spezielle Verpackungen – zur Folge, dass es für ärmere Länder schwierig sein wird, preisgünstige Medikamente zu importieren. Zudem weiss man, dass es in der Praxis keineswegs einfach ist, bürokratische WTO-Hürden zu überspringen. Auch können wir sicher sein, dass Big-Pharma zusammen mit der US-Regierung, aber auch der Schweiz, alles daran setzen wird, dass der Patentschutz nicht allzu sehr im Interesse einer guten und preisgünstigen Gesundheitsversorgung gelockert wird. So meint etwa Céline Charveriat von Oxfam International: „In der Praxis wird der Export für Brasilien kompliziert, auch wegen des Drucks, den die Pharmaindustrie ausüben wird“. Erinnert sei auch daran, dass Länder wie Brasilien, welche die Versorgung ihrer Bevölkerung mit preisgünstigen Medikamenten wirksam verbessert haben, dies nicht ohne Verletzung von Patentrechten zustande gebracht haben. Es wird für Regierungen von Dritt-Welt-Ländern also auch in Zukunft eine schwierige Entscheidung sein, wie weit sie es wagen sollen, internationale Regelungen im Interesse der Gesundheitsversorgung ihrer Bevölkerung zu verletzen. Und ebenso wird es auch in Zukunft eine wichtige Aufgabe von sozialen Bewegungen und Gewerkschaften sein, mit Hilfe von Kampagnen solche Regierungen gegen Klagen und Sanktionen zu verteidigen. Sicher ist nur eines: Der Kampf für eine Senkung der Medikamentenpreise für die Bevölkerung in den Ländern des Südens hat sich mit der Einigung vom 30.August keineswegs erübrigt und muss energisch weitergeführt werden.
Sicher würde die Rolle der Schweizer Regierung und der Schweizer Pharmakonzerne in diesem Prozess eine ausführlichere Untersuchung verdienen. Die offizielle Schweiz spielt hier nach den USA eine besonders problematische Rolle. Und so haben wir auch nach dem Scheitern der WTO-Runde in Cancun bei uns bis heute wenig selbstkritische Worte vernommen. Keine Silbe davon, dass die USA und die europäischen Regierungen durch ihre arrogante Haltung diesmal den Bogen überspannt haben. Die Schweiz als kleines Land ist eigentlich an einer Weiterentwicklung der multilateralen Abkommen interessiert. Anstelle von Selbstkritik sind bei uns aber nur deplazierte Kommentare an die Adresse der Dritt-Welt-Länder zu hören, dass sich diese mit ihrer Politik ins eigene Fleisch schneiden würden. Bleibt nur zu hoffen, dass sich die Länder des Südens auch in kommenden WTO-Runden von unserem Gesundbeter Josef Deiss nicht darüber belehren lassen, was für sie angeblich das Beste sei.
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