Unter Bolsonaro kämpften die medico-Partnerorganisationen erfolgreich ums Überleben. Und heute?
Von Timo Dorsch und Jan Schikora
Vor knapp zwei Jahren wählte eine hauchdünne Mehrheit den rechts-autoritären Präsidenten Jair Bolsonaro ab. Ganz verschwunden ist der Politiker und sein politisches Erbe aus der brasilianischen Gesellschaft zwar nicht, immer wieder kommt es in den großen Städten zu Pro-Bolsonaro-Kundgebungen. Eine neuerliche Kandidatur wurde ihm jedoch gerichtlich bis 2030 untersagt, wegen Geldwäsche und anderen Straftaten laufen außerdem weitere Ermittlungen. Man könnte nüchtern meinen: Die Lage ist deutlich entschärft. Oder?
Ein Blick zurück: Bolsonaro gewann Ende Oktober 2018 die Präsidentschaftswahl. „Es wird eine Säuberung geben wie nie zuvor in diesem Land“, tönte er noch als Kandidat im Wahlkampf bei einer Veranstaltung vor berauschten Anhänger:innen in São Paulo. „Ich werde die Roten aus Brasilien wegfegen. Entweder sie verschwinden oder sie kommen ins Gefängnis.“ Bei anderen Gelegenheiten polemisierte er gegen sexuelle Minderheiten, Indigene, Schwarze und Frauen. Eine Woche später wählten ihn 58 Millionen Brasilianer:innen zum Präsidenten des bevölkerungsreichsten Landes auf dem lateinamerikanischen Kontinent. Es folgten vier Regierungsjahre, über die heute noch gestritten wird, ob sie mit den Adjektiven neofaschistisch, rechtspopulistisch oder autoritär am besten beschrieben sind.
Dass die Ära Bolsonaro 2022 zumindest vorerst endete und ausgerechnet Ex-Präsident und Gallionsfigur Luiz Inácio da Silva, kurz Lula, von der Arbeiterpartei (PT) ihn ablöste, hat viel damit zu tun, dass Bolsonaro und seinen Gefolgsleuten in dessen Regierungszeit vielfältiger Widerstand entgegengesetzt wurde – vor allem von außerparlamentarischen Bewegungen und all jenen, die zur Zielscheibe von Diffamierungen, Ausgrenzung und Verfolgung wurden. Doch wie wehrt man sich effektiv gegen einen wahlweise rechtspopulistischen, autoritären oder neofaschistischen Präsidenten?
Eine Antwort findet sich im Fundus der Landlosenbewegung Movimento dos Trabalhadores Sem Terra (MST), deren Anfänge in der Ära des von Bolsonaro verherrlichten brasilianischen Militärregimes gründen und deren Verfolgung als „terroristische Gruppe“ er im Wahlkampf versprochen hatte. Im MST organisieren sich brasilienweit rund eine halbe Million kleinbäuerliche Familien. Dank massenhafter Landbesetzungen ist die Bewegung über die Landesgrenzen hinaus bekannt und hat mittlerweile ein weitverzweigtes Netz landwirtschaftlicher und agrarökologischer Kooperativen und Vereinigungen aufgebaut, das beträchtliche Erfolge bei der alternativen Produktion von Nahrungsmitteln vorweisen kann. Ayala Ferreira gehört dem MST schon seit 22 Jahren an. Heute koordiniert sie auf Landesebene den Sektor Menschenrechte. „Als Bolsonaro an die Macht kam, galt es vor allem, eine politische Isolierung zu verhindern“, erinnert sie sich. „Wir haben deshalb bewusst weniger Landbesetzungen durchgeführt und stattdessen die Tore zu unseren Siedlungen geöffnet. Wir wollten demonstrieren, wie produktiv solidarische, kollektive Gesellschaftsformen sein können.“
Während der Pandemie, in der rund 700.000 Brasilianer:innen an Covid-19 starben, verteilte der MST in großem Stil Lebensmittelspenden: ein Gegenentwurf zu Ignoranz und Inkompetenz der Regierung, die die Pandemie zuerst verharmloste und dann völlig überfordert war. Auf diese Weise hat die Bewegung viele Sympathien gewonnen, meint Ayala Ferreira. Gleichzeitig habe man sehr genau analysiert, wie die Privatmilizen des Agrobusiness im Verbund mit der Militärpolizei vor und bei Zwangsräumungen agierten. „Wir antizipierten, wie lange die Polizei brauchte, um anzukommen, wie groß ihre Einheiten waren und welche Wege sie benutzten. Straßenblockaden oder platte Reifen können dann sehr effektiv sein, um Zeit zu gewinnen und den Widerstand vor Ort zu organisieren“, erklärt die Menschenrechtskoordinatorin. „Das vereinzelte Individuum steht auf verlorenem Posten, die Kollektivität des Widerstands schützt.“ Eben deshalb habe der MST auch gezielt seine nationalen und internationalen Netzwerke erweitert und sich aktiv an den zivilgesellschaftlichen Massenmobilisierungen gegen Bolsonaro beteiligt.
Eine andere Erfahrung des Überlebens und Kämpfens unter der rechtsautoritären Regierung kommt aus der Peripherie der Metropole São Paulo. Helena Silvestre, eine afroindigene Feministin und langjährige Aktivistin der urbanen Kämpfe um Wohnraum, hat 2019 – also schon unter Bolsonaro – das Kollektiv „Escola Feminista Abya Yala“ mitgegründet. „Das erste, was uns auffiel, war die neue Präsenz von Schlägertrupps und Neonazigruppen in den Straßen, die sich durch den Diskurs von Bolsonaro gestärkt sahen.“ Es habe regelrechte Jagden auf Aktivist:innen der Schwarzen Bewegung, auf Trans-Personen und queere Menschen gegeben. „Die enthemmte Gewalt war deutlich zu spüren.“
Angesichts der Gefahr zögerten die Stadtteilaktivistinnen nicht lange: Sie gründeten Selbstverteidigungsgruppen. Allein in der südlichen Peripherie von São Paulo stellten sich fünf Komitees den Neonazis entgegen. „Wir haben uns in Nahkampf geschult und versucht, die außerstaatlichen Strukturen in der Peripherie und den Gemeinschaften zu stärken – mitunter auch vergeblich“, so Silvestre. Die Hasstiraden des Präsidenten, der Einfluss der radikalen Pfingstkirchen, die Zunahme der Polizeigewalt mit Todesfolge, der massive Sozialabbau, die zunehmende Militarisierung und die Aushöhlung demokratischer Institutionen – all das habe dazu beigetragen, das soziale Gefüge zu zersetzen.
Helena Silvestre betont, dass dieses Unheil nicht erst mit Bolsonaro begonnen hat. Immerhin folgte dieser fast unmittelbar auf eine rund 14-jährige Phase von Linksregierungen unter der Ägide der PT, zunächst mit Lula an der Spitze, dann unter Dilma Rousseff. Der PT sei es anfangs zwar gelungen, mit umfassenden Sozialprogrammen soziale Missstände anzugehen. Doch strukturelle Veränderungen habe es nicht gegeben, zumal die Regierung Allianzen mit der nationalen Bourgeoisie und transnationalen Kapitalfraktionen einging. „Das führte zu einer breiten Ermüdung der Menschen, angesichts eines Lebens ohne große Veränderungen und voller nicht erfüllter Versprechen“, resümiert sie.
Vor allem nach den breiten Protesten 2013 – zunächst gegen die Erhöhung der Nahverkehrspreise, zunehmend auch gegen Korruption, kapitalistische Auswüchse und urbane Segregationspolitiken, die im Vorfeld der Fußball-WM 2014 und der Olympischen Spiele enorm an Fahrt aufnahmen – sei die PT zur Ordnungspartei geworden. Mit den sich krisenbedingt verschlechternden Lebensbedingungen der Menschen seien neben Frust und Enttäuschung auch soziale Ängste gewachsen. Das, so Helena Silvestre, habe den Aufstieg Bolsonaros vom blassen Abgeordneten zum Präsidenten und den Erfolg autoritär-neoliberaler Verheißungen erst möglich gemacht. In der Krise verfingen die radikal vereinfachenden Diskurse, vermeintlich Schuldige für die Misere auszudeuten: all jene, die die „traditionelle Ordnung“ im Land in Frage stellten. Das Resümee Silvestres: „Nach all den Enttäuschungen über die Linksregierungen war dann auch niemand bereit, zu ihrer Verteidigung auf die Straße zu gehen.“
Die Wahl von Lula im Oktober 2022 wurde dennoch von vielen als eine Art Rückkehr zur Demokratie empfunden. Entsprechend groß war die Erleichterung, auch bei Ayala Ferreira und Helena Silvestre. „Der Sieg von Lula war das Ergebnis einer breiten Mobilisierung, der Rückkehr auf die Straßen, wo wir der Rechten die Räume streitig machten“, erinnert sich die MST-Aktivistin. „Dennoch: Wir haben zwar gesiegt, aber wir haben sie nicht besiegt.“ Tat sächlich ist die Rechte um Bolsonaro weiterhin stark, besetzt viele wichtige öffentliche Ämter im ganzen Land und bestimmt die Geschicke des Kongresses. „Das parlamentarische Ermittlungsverfahren, das gegen den MST eingeleitet wurde, um uns terroristische Aktivitäten nachzuweisen, hat gezeigt, wie schwach die Regierungsbasis ist“, verdeutlicht Ayala, „auch die Gewalt gegen traditionelle Gemeinden und Aktivist:innen auf dem Land hat keineswegs abgenommen.“
Ähnlich sieht es Helena Silvestre, die daran erinnert, dass mit Geraldo Alckmin ein ausgewiesen konservativer Politiker das Amt des Vizepräsidenten bekleidet, in dessen Amtszeit als Gouverneur von São Paulo die oft tödliche Polizeigewalt besonders schlimme Ausmaße annahm. Ohnehin sei die Demokratie in Brasilien – gerade für die Schwarze Bevölkerung – ein Versprechen, das nie eingelöst wurde. „Natürlich habe ich Lula gewählt. Aber den Glauben an eine wirkliche Veränderung habe ich längst verloren. Im Gegenteil: Die Prekarisierung der Lebensverhältnisse wird immer brutaler“, so ihr düsterer Ausblick. „Irgendwann wird uns das ganze Land um die Ohren fliegen.“
Zwar ist die rechte Regierung erst einmal abgewählt und abgesetzt, doch gesellschaftliche Konflikte nehmen genauso zu, wie die Hürden für ein würdevolles und sozial abgesichertes Leben. „All das schafft einen Nährboden für die Rechte und ihren Autoritarismus – aber auch für neue Formen der Selbstorganisierung“, fasst Silvestre ihre Gedanken zusammen. Denn gerade die Kämpfe um Wasser, Land, Wohnraum und Ernährung haben ihr zufolge in den letzten Jahren enormen Auftrieb erhalten.
Grundsätzlich mangele es jedoch an einem gesamtgesellschaftlichen Projekt, einer gemeinsamen Vision, da sind sich beide Aktivistinnen einig. Dennoch sei es wichtig, der extremen Rechten und anderen konservativ beharrenden Kräften weiterhin die Stirn zu bieten. Nicht nur in Gestalt seiner drei ältesten Söhne, die allesamt politische Ämter bekleiden, sondern auch mittels einflussreicher Gefolgsleute wie dem aktuellen Gouverneur von São Paulo, Tarcísio de Freitas, bringt sich der Bolsonarismus wieder in Stellung. Die Gemeindewahlen im Oktober, bei denen auch die einflussreichen Bürgermeister von Metropolen wie São Paulo und Rio de Janeiro bestimmt werden, sind ein wichtiger Gradmesser dafür, was bei den nationalen Wahlen in rund zwei Jahren zu erwarten ist. Dass es dem Ex-Präsidenten nach wie vor gelingt, Tausende Anhänger:innen bei öffentlichen Kundgebungen – wie im Februar in São Paulo, oder im April in Rio – zu mobilisieren, sind eine Mahnung.
medicos Partnerorganisationen in Brasilien streiten seit Jahrzehnten für Demokratie und soziale Rechte. In der Landlosenbewegung MST organisieren sich 1,5 Millionen Menschen, um auf besetztem Land ein Auskommen und ökologische Alternativen zur traditionellen Landwirtschaft zu schaffen. Die Escola Feminista Abya Yala, gegründet nach Bolsonaros Amtsantritt, versucht, das soziale Gefüge in den Randbezirken von São Paulo aufrechtzuerhalten und neue Verbindungen zu schaffen.
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Das Interview erschien in Telepolis in Kooperation mit dem US-Medium Democracy Now. Hier geht es zum Original.
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