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Auswege aus der Wirtschaftskrise
29.04.2010 | 12:12 Uhr

Eine Strategie von unten

Aktuell: Die Griechische Finanzkrise ist eine Fortsetzung der Wirtschaftskrise.
Hiermit veröffentlichen wir einen Beitrag zur Wirtschaftskrise, der in leicht geänderter Form auch in der Schweizer Zeitschrift Widerspruch (Ausgabe 57, http://www.widerspruch.ch) erschienen ist.


Etwas mehr als ein Jahr nach der Finanz- und Bankenkrise im Herbst 2008 stellt sich die Frage, ob das neoliberale Regime, wie viele erwartet haben, wirklich ins Wanken geraten ist und ein neues „postneoliberales“ Zeitalter angebrochen ist (vgl. dazu Brand/Sekler 2009). Von einem „Postneoliberalismus“ kann jedoch nicht die Rede sein. Die „Rettungsmassnahmen“ für die Banken, welche ein historisch nie dagewesenes Ausmass annahmen, konnten in den meisten Ländern, so auch in der Schweiz, ohne grosse demokratische Legitimation, aber auch ohne Widerstand durchgesetzt werden. Der Staatsrechtler Rainer J. Schweizer spricht im Falle der Schweiz gar von einem Verfassungsbruch (Ryser 2009). Und wie in anderen Ländern, so lag auch in der Schweiz die Ausarbeitung und Durchführung der „Rettungspakete“ in den Händen derselben Finanzstrategen, welche für die Finanzkrise verantwortlich sind (in den USA vgl. Harvey 2009). Wenn man unter dem Neoliberalismus ein Klassenprojekt versteht, mit dem seit der strukturellen Krise der 1970er Jahre die Herrschaft der Kapitalbesitzer unter Führung des Finanzkapitals wiederhergestellt wurde (Duménil/Levy 1996), so haben die massiven Staatsinterventionen deren Macht auf Kosten der Steuerzahler vorerst konsolidiert.

Die Legitimationskrise des Neoliberalismus
Gewiss, der Neoliberalismus steckt in einer Legitimationskrise. Sie hat schon Mitte der 90er Jahre mit den Kämpfen der sozialen Bewegungen in Mexiko und Lateinamerika, insbesondere gegen die Freihandelspolitik, eingesetzt und auch die globalisierungskritische Bewegung hat dazu beigetragen, diese Krise bewusst zu machen. Mit der Asienkrise 1997/98 hat sie sich verstärkt, als Folge der Politik des IWF. Auch wurde in dieser Krise klar, dass sich Länder wie China, die den neoliberalen Deregulierungs- und Liberalisierungsmassnahmen nicht ausgesetzt waren, ökonomisch besser entwickeln konnten. Verschiedene Reformvorschläge, mit denen die heutige Krise bewältigt werden soll, gehen auf die Zeit der Asienkrise zurück, so z.B. die Bestrebungen, den IWF und die Weltbank zu reformieren und neu auszurichten, unter verstärktem Einbezug wichtiger Schwellenländer und einer Neuverteilung der Stimmrechte (Bayer 2009). Dies gilt auch für die Erweiterung der G8 zur G20, auch wenn diese erst in der gegenwärtigen Wirtschaftskrise so richtig zum Tragen gekommen ist, mit dem Ziel, Organisationen wie den IWF und die Antikrisenpolitik im Interesse des Kapitals breiter abzustützen. Diese Reformen haben das neoliberale Regime überhaupt nicht infragegestellt, dieses hat sich vielmehr, insbesondere mit dem Wechsel von Bush zu Obama, als recht flexibel und anpassungsfähig erwiesen (Bond 2009).
Vorerst stabilisiert wurde nicht nur das Finanzsystem, auch die Konjunktur hat sich dank massiven Ankurbelungsprogrammen in China, den USA und Brasilien etwas erholt, wobei sich die Schweiz und Deutschland – wie gewohnt – als Trittbrettfahrer verhalten haben (vgl. die Zusammenstellung bei Baumann 2009). Seit dem April 2009 steigen die Kurse der Aktien wieder und die Spekulation hat beim Erdöl und beim Carry Trading in grossem Stil eingesetzt. Vieles weist aber darauf hin, dass die Krise keineswegs vorbei ist, wenn wir an die andauernden Probleme in der Automobil- und Luftfahrtindustrie und im Transportbereich, an den Rückgang der Massenkaufkraft infolge von Entlassungen, an die Arbeitslosigkeit und Lohnrestriktion denken. Allein in der Europäischen Union zählte man im Oktober 2009 22.5 Mio. „offizielle“ Arbeitslose, was beinahe 10 Prozent der Erwerbstätigen entspricht. Vorab ist aber der durch Verschuldung angetriebene Motor des Massenkonsums in den USA ins Stottern geraten. Auch ist aufgrund möglicher Kreditausfälle der Finanzbereich gemäss einem Bericht der deutschen Bundesbank noch nicht definitiv stabilisiert (NZZ v. 26.11.2009). Die hartnäckige und schwer zu überwindende Preisdeflation in Japan erinnert an die Depression der 30er Jahre (Bischoff 2009). Und schliesslich werden die Bestrebungen zunehmen, die durch „Rettungsmassnahmen“ und Konjunkturpakete verschuldeten Staatshaushalte zu sanieren, was die Lohnabhängigen treffen und nicht aus der Wirtschaftskrise herausführen wird.
Das wahrscheinlichste Szenario wird deshalb sein, dass die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise den Auftakt für eine längere Depressionsphase bildet – mindestens in den Zentren, den USA, Japan und in Europa (Roth 2009). Ein Vergleich mit der „Grossen Depression“ 1873-1895 und der Depression der 1930er Jahre (1929-1941) liegt nahe. Zwar ist das Modell der „Langen Wellen“, das auf den sowjetischen Ökonomen Nikolai D. Kondratjew (1926) zurückgeht, nicht unbestritten, für den Historiker aber besitzt es einige Plausibilität. Es lassen sich nämlich gemäss diesem Modell folgende Phasen unterscheiden: Auf den ausserordentlichen Aufschwung des „Goldenen Zeitalters“ 1941-1967, der Zeit des Fordismus, folgten die von der Rezession 1966/67 bis Mitte der 80er Jahre dauernde lange Krisenphase der 70er Jahre und danach der nicht mit der Nachkriegszeit vergleichbare Aufschwung seit 1985, getragen von neuen Technologien, Computerindustrie und Elektronik. Dieser Aufschwung dürfte mit der aktuellen Weltwirtschaftkrise ein Ende finden (Roth 2009). Wichtiger noch als die Methodologie der „Langen Wellen“ ist die Hypothese, wonach die tieferliegenden Widersprüche des neoliberalen Regimes, welche der heutigen Weltwirtschaftskrise zugrundeliegen, keineswegs überwunden sind. Vielmehr ist die Überakkumulationskrise der 70er Jahre mit noch grösserer Vehemenz zurückgekehrt.
Worin bestehen die tieferliegenden Widersprüche des neoliberalen Regimes? Der Neoliberalismus als Klassenprojekt war eine Antwort des Bürgertums auf die Befreiungsbewegungen in den Ländern des Südens, auf die Streiks der späten 1960er und frühen 70er Jahre in den USA und Europa, auf die Achtundsechziger Bewegung, auf die starke Ausdehnung der staatlichen Ausgaben im Bildungs-, Gesundheits-, Sozial- und Infrastrukturbereich und auf die Inflation, welche auch die Mittelschichten getroffen und verunsichert hat. Vor dem Hintergrund einer strukturellen Überakkumulationskrise verlagerte sich die Profitsteigerung verstärkt auf die absolute Mehrwertsteigerung (Lohnrestriktion, Kostensparen, Arbeitsintensivierung etc.) zuungunsten der relativen Mehrwertsteigerung (neue Technologien, Zeitökonomie), was in vielen hochindustrialisierten Ländern seit Beginn der 80er Jahre eine Massenarbeitslosigkeit hervorgebracht und die Klassenfragmentierung vorangetrieben hat. Hinzu kommen die Strategien der Akkumulation durch Enteignung, etwa durch die Privatisierungen oder – vorab in den Ländern des Südens - die Aneignung und Plünderung von Ressourcen durch Multinationale Konzerne (Harvey 2005). Seit den 1970er Jahren ist die Profitlogik via Privatisierungen verstärkt in gemeinwirtschaftliche Bereiche eingedrungen, wo sie für die Menschen überwiegend negative Auswirkungen hat, wie etwa im Bildungs- und Gesundheitsbereich. Mit den neoliberalen Strategien hat sich die Dominanz der kapitalistischen Ökonomie über die gesamte Gesellschaft gefestigt und wurden alle Lebensbereiche der Kommerzialisierung unterworfen.
Dabei hat der Neoliberalismus als politisches und ökonomisches Projekt den Nationalstaat keineswegs zurückgedrängt (Krätke 2006). Zur Durchsetzung der strukturellen Veränderungen waren die Neoliberalen auf den Staat, welchen sie für ihre Zwecke funktionalisierten, angewiesen. Im Gegensatz zu den klassischen Liberalen mit ihrer „Laissez-faire“-Strategie verfolgten die Neoliberalen ihre Ziele mit politischen Mitteln. Erinnert sei ans erste und extremste Beispiel: an die Durchsetzung des Neoliberalismus mit Hilfe eines Putsches 1973 und einer blutigen Militärdiktatur in Chile. So kann es eigentlich nicht erstaunen, dass in der Krise 2008 bei der Rettung der Banken und der Profite der Kapitalbesitzer der Staat eine zentrale Rolle gespielt hat. Der Staat hat immer interveniert, wenn es die Interessen des Finanzkapitals zu protegieren galt. Denken wir nur an die Sanierung des Staatshaushalts von New York in der Mitte der 1970er Jahre oder an die Interventionen des IWF z.B. in der „Tequila-Krise“ in Mexiko 1994 (Harvey 2009).
Kennzeichnend für das neoliberale Regime ist die sehr enge personelle Verflechtung des Staatsapparats mit dem Finanzkapital und den grossen multinationalen Konzernen, wie sie in den USA, auch mit der neuen Administration Obama, in Grossbritannien, aber auch in der Schweiz besonders ausgeprägt ist. Die wichtigste Funktion des Staates bestand darin, die ökonomischen Bedingungen der Kapitalverwertung im weltweiten Standortwettbewerb zu optimieren (Standortstaat). Von einer „Rückkehr des Staates“ in der gegenwärtigen Krise kann man nur reden, wenn man die Rolle des Staates im Neoliberalismus nicht verstanden und die Parole „Mehr Freiheit, weniger Staat“ zum Nennwert genommen hat. Was die neoliberalen Strategien anzielten, war und ist der Abbau des Sozialstaates. Untergraben wurde dabei die Grundlagen der Demokratie und der Solidarität zugunsten eines Wettbewerbs im Kampf aller gegen alle. Ausgebaut wurden hingegen die enge Verflechtung von Banken und multinationalen Konzernen mit dem Staatsapparat, der Sicherheits-, Polizei- und Überwachungsstaat. Eingeleitet hat das neoliberale Projekt eine Entdemokratisierung und Militarisierung der Gesellschaft, die bis zur offenen kriegerischen Intervention führen kann, um wichtige Ressourcen abzusichern.
Wichtig zu sehen ist auch, dass es sich beim Neoliberalismus nicht nur um eine Wirtschaftsstrategie, sondern um ein hegemoniales Projekt im Sinne von Gramsci handelt, welches nicht nur grosse Teile der Mittelschichten, sondern auch der Linken ideologisch zu integrieren vermochte. Dabei ist nicht nur an Schröders „Neue Mitte“ und Blairs „New Labour“ zu erinnern. Auch in der Schweizer Linken, vornehmlich in der Sozialdemokratie, hat sich die neoliberale Ideologie verbreitet. Das hat sich an der Schwächung, ja der Auflösung des Klassenbewusstseins gezeigt, an der Anpassung an eine Ideologie der Eigenverantwortung und an der Konsenspolitik im Konkordanzsystem, welche der SVP ermöglicht hat, sich als einzige oppositionelle Kraft im Lande zu etablieren. Die Ideologie der Globalisierung, die behauptet, dass es heute in der Politik keine echte Alternative zum Kapitalismus gebe, also das TINA-Prinzip Margret Thatchers, hat sich auch in vielen Köpfen der Linken breitgemacht. Das Fehlen von linken Alternativen hat zu einer folgenschweren Entpolitisierung geführt, unterstützt durch die meinungsführenden Medien. Diese Entpolitisierung hat die Linke in den USA und in Europa sehr geschwächt. Dennoch bleibt das neoliberale Regime krisenhaft, brüchig und instabil, und dies vor allem wegen der immer ungerechteren Verteilung von Einkommen und Vermögen und der zunehmenden Konflikte, Spannungen und Ausgrenzungen. Es dominiert eine negative Integration anstelle der positiven über materielle Besserstellung wie im fordistischen Regime.
Während bisher in den kapitalistischen Zentren die Krise des neoliberalen Regimes mit verschiedenen Massnahmen gemildert werden kann, hat sich die breiteste und radikalste Gegenbewegung seit 1994 – beginnend mit dem mexikanischen Zapatistenaufstand – in Lateinamerika herausgebildet, wo die Bevölkerung früh und brutal mit der neoliberalen Politik konfrontiert wurde. Dieses „Erwachen des Südens“ setzte ab 1955 mit der Bewegung der blockfreien Staaten ein (Amin 2009). Hier finden wir wichtige Erfahrungen und Diskurskontexte, die auch heute in Lateinamerika eine Rolle spielen, wie z.B. alternative Entwicklungstheorien, Ansätze zu einer autozentrierten Entwicklung und den Antiimperialismus. Diese Bewegungen wurden zuerst im Iran (1953), dann in Guatemala (1954), in der Demokratischen Republik Kongo (1960), in Indonesien (1965) und dann auch in Lateinamerika durch Militärputsche und Militärdiktaturen mit Unterstützung der USA niedergewalzt. Dies war umso leichter möglich, als es nie zu einem breiteren Bündnis der Befreiungsbewegungen im Süden mit der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung in den Zentren kam, da diese unter der Vorherrschaft der antikommunistischen und atlantischen Ideologien und wegen des grossen materiellen Verteilungsspielraums zur Zeit des Fordismus stark in die herrschenden Regimes und die imperialistische Politik eingebunden waren. Die internationale Solidarität mit sozialen Bewegungen und Gewerkschaften im Süden spielt bei uns bis heute eine zu marginale Rolle.
Als Reaktion auf die verheerenden Auswirkungen der neoliberalen Politik kündigt sich in Ländern Lateinamerikas ein zweites „Erwachen des Südens“ an. Auch wenn viele Ideen der ersten Phase in diesen Bewegungen wieder aufleben, haben diese nicht bloss linksnationalistischen und populistischen Charakter (vgl. Ringger 2008a; Burchardt 2008). Mit ihrer Politik grundlegender sozialer und demokratischer Reformen, aber auch mit ihrer regionalen Bündnispolitik gehen sie darüber hinaus. Im Gegensatz zu den 60er Jahren eröffnen heute die Herausbildung einer multipolaren Welt und die Krise der US-Dominanz neue Spielräume für alternative Entwicklungen, wobei allerdings die USA sich heute wieder verstärkt ihrem ehemaligen „Hinterhof“ Lateinamerika zuwenden. Spürbar stärker zeigt sich dabei, anders als im „goldenen Zeitalter“, das Zusammenwirken der Bewegungen in Lateinamerika und der Linken und den Gewerkschaften in Europa und den USA. Die Linke in den Zentren muss indessen erst noch die Illusion überwinden, mit kapitalistischer Reformpolitik sei ein Zurück zum „goldenen Zeitalter“ möglich.

Drei Strategien zur Krisenüberwindung
Die vom Kapitalismus vorab profitierende Bourgeoisie, die Kapitalbesitzer unter Führung des Finanzkapitals werden alles daran setzen, die durch die Krise angeschlagene neoliberal-konservative Hegemonie zu konsolidieren. Dies wird dadurch erleichtert, dass grosse Teile der Bevölkerung – das haben die Wahlen in Deutschland, aber auch in der Schweiz gezeigt – die Tendenz haben, in Phasen der Krise und der Unsicherheit nach rechts zu rücken. Die Klassenfragmentierung im neoliberalen Regime erlaubt es den herrschenden Eliten, verschiedene Bevölkerungsteile gegeneinander auszuspielen: die Einheimischen gegen die Zugewanderten, die Arbeitslosen gegen die Beschäftigten und die Festangestellten gegen die prekär Beschäftigten. Die mit wachsender Ungleichheit spürbar zunehmende Unzufriedenheit und Wut wird von den koordiniert handelnden bürgerlich-liberalen und rechtsnationalistischen Parteien auf Minderheiten umgelenkt, auf AusländerInnen, MigrantInnen und Angehörige anderer Religionen – heute des Islams.
Gerade in einer Situation struktureller Überakkumulation wird es zu einer Verschärfung der neoliberalen Strategien kommen. Das schliesst gewisse Reformen keineswegs aus, wie sie schon seit der Asienkrise in die Wege geleitet worden sind. Auch konnte mit dem Wechsel der US-Regierung von Busch zu Obama die imperialistische Aussenpolitik der USA neu legitimiert werden. Dass sich an ihr nichts Wesentliches geändert hat, können wir an der Haltung der Regierung Obama zum Putsch in Honduras, an der Palästinapolitik der USA und an der Haltung gegenüber dem Embargo gegen Kuba sehen.
Eine zweite Strategie der Krisenüberwindung nennt Walden Bello „sozialdemokratisch“ (Bello 2009). Sie stellt Globalisierung und der Kapitalismus nicht grundsätzlich infrage, sondern möchte sie durch Reformen zivilisieren und sozialer ausgestalten. Die Ursachen der Krise werden dabei nicht in Widersprüchen der Kapitalakkumulation gesehen, sondern in Auswüchsen des neoliberalen Kapitalismus oder in Instabilitäten und schwachen Regulierungen des Finanzsystems, wenn nicht gar in der Habgier einzelner Finanzkapitalisten. Reformvorschläge sollen der „Ausbeutung“ des realen Kapitals durch das Finanzkapital Grenzen setzen, was Bündnismöglichkeiten der Gewerkschaften mit Teilen der Unternehmer eröffnen soll. Es gibt im neoliberalen Regime, wie schon erwähnt, eine enge Verflechtung des Staatsapparats nicht nur mit dem Finanzkapital, sondern auch mit den grossen multinationalen Konzernen, die diesen gewisse Vorrechte und eine Monopolstellung und damit auch hohen Renditen im Vergleich mit anderen Branchen sichert (Rieger 2009). Dennoch überwiegen vorläufig die gemeinsamen Interessen des Kapitals an den neoliberalen Strategien, weil es zu diesen aus ihrer Sicht in einer Situation der Überakkumulation keine Alternativen gibt.
Diese „sozialdemokratischen Strategien“ zur Krisenüberwindung sind heute aus folgenden Gründen wenig aussichtsreich: In der strukturellen Überakkumulationskrise nehmen die Produktivitätsfortschritte ab, und neue hochrentable Investitionsfelder fehlen, mindestens in den industrialisierten Ländern wie der Schweiz; Strategien der absoluten Mehrwertsteigerung lassen Verteilungsspielräume schrumpfen, was eine Reformpolitik im Bündnis mit Teilen der Unternehmerschaft erschwert. Bei Überakkumulation und sinkenden Profiten verschärft sich die Konkurrenz, und alle Unternehmer versuchen, mit Angriffen auf die Lohnabhängigen ihre Rendite zu erhöhen. Zudem nimmt in der Krise der Nationalstaat stärker Einfluss und versucht primär seinen eigenen Finanzplatz und seine eigenen multinationalen Konzerne zu begünstigen. Damit verschärft sich nicht nur der Standortwettbewerb, sondern auch dessen Begleitmusik, die chauvinistische Hysterie.
Damit haben Reformen, welche auf eine internationale Koordination abstellen, etwa auf ein neues Bretton-Woods-System oder auf einen international abgestimmten Green New Deal, wenig Chancen. Und schliesslich kann das grundlegende Problem der sich öffnenden Schere zwischen gesellschaftlichen Bedürfnissen und Profitsteigerung mit Wachstumspolitik nicht gelöst werden. Voraussetzungen einer Lösung wären Eingriffe in die Investitionsfreiheit der Unternehmer und eine Ausweitung und nicht eine Zerstörung des Service Public in Bereichen der Bildung, der Betreuungsaufgaben, des Gesundheitswesens und im Pflegebereich, sowie der Infrastruktur und anderer Dienstleistungen.
Umso dringlicher ist heute eine dritte Strategie, welche die kapitalistische Logik nicht unangetastet lässt, sondern diese in wichtigen Punkten in Frage stellt und überwinden will. Während es sich bei den ersten beiden um „Strategien von oben“ handelt, verfolgt die dritte Strategie eine „Perspektive von unten“, weil der Widerstand gegen die Auswirkungen der verschärften Ausbeutung in den Betrieben, gegen die Akkumulation durch Enteignung und gegen die Kommerzialisierung aller Lebensbereiche im Zentrum steht. Ich versuche diese Strategie mithilfe von sechs Leitlinien zu konkretisieren.
Sechs Leitlinien einer Strategie von unten
Die erste Leitlinie stellt den Kampf gegen das Abwälzen der Krise auf die Lohnabhängigen, das heisst gegen Entlassungen, Lohnrestriktion und Sozialabbau und für ein gerechteres Steuersystem, das heisst die Umverteilung von Einkommen und Vermögen ins Zentrum. Für die Schweiz bedeutet das konkret: Massnahmen gegen tiefe Löhne und die Prekarisierung der Arbeit. Richtig und wichtig ist eine Initiative zur Festlegung von gesetzlichen Mindestlöhnen, wie sie vonseiten der Gewerkschaften und der SPS geplant ist. Wichtig ist auch eine Reform bzw. ein Ausbau in der Sozialpolitik. Auch hier darf es nicht nur darum gehen, Angriffe abzuwehren, sondern es müssen offensive Alternativen diskutiert werden, wie die Einführung einer solidarischen Krankenversicherung und existenzsichernder AHV- und IV-Renten. Von grosser Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Durchsetzung einer Volkspension, das heisst der Einbau oder mindestens der Teileinbau der 2.Säule in die AHV. Denn die krisenanfällige 2. Säule ist nun schon zweimal, 2002 und 2008, ins Wanken geraten. Die 2. Säule ist aber auch deshalb äusserst problematisch, weil mit ihr die Lohnabhängigen ins neoliberale Regime der Profitmaximierung (Shareloder-value-Konzept) und in die imperialistische Ausplünderung der Länder des Südens eingebunden werden (Vgl. Modellvorschlag, Denknetz-Fachgruppe Politische Ökonomie 2009a).
Mit Lohnpolitik allein kann das Umverteilungsproblem allerdings nicht gelöst werden. Ebenso wichtig ist die Steuerpolitik, wo präzise Forderungen diskutiert werden müssen. Wichtig wäre eine Besteuerung der hohen Einkommen und grosser Vermögen durch eine Reichtumssteuer, aber auch eine Transaktionssteuer, wie sie heute von der deutschen Gewerkschaft Verdi vorgeschlagen wird. Damit könnten überschiessende Gewinne weggesteuert und Investitionen in soziale und ökologisch nachhaltige Bereiche und umweltschonende Technologien und Energieformen gefördert werden, z.B. durch die Bildung von kommunalen, kantonalen und nationalen Investitionsfonds unter demokratischer Kontrolle. Zur Steuerpolitik gehört auch die Steuerharmonisierung und die Abschaffung des Bankgeheimnisses, und dies nicht nur gegenüber der USA und den EU-Staaten, sondern auch gegenüber Ländern des Südens und vorab auch in der Schweiz selbst (Denknetz-Fachgruppe Politische Ökonomie 2009b).
Die zweite Leitlinie bricht mit dem Wachstumswahnsinn: Lebensqualität und Arbeitszeitverkürzung statt Wiederherstellung von Vollbeschäftigung via Wirtschaftswachstum. In der Schweiz besteht insbesondere in der Debatte über Arbeitszeitpolitik ein grosses Manko, da in der Linken und in den Gewerkschaften immer noch illusionäre Vorstellungen herrschen, mit einer Wachstumspolitik könne Vollbeschäftigung wiederhergestellt werden. Die Arbeitszeitfrage wird heute nicht genügend beachtet; sie kann jedoch nur in Konfrontation mit den Unternehmern und nicht sozialpartnerschaftlich, das heisst im Konsens durchgesetzt werden.
Die dritte Leitlinie fordert die Demokratisierung wirtschaftlicher Entscheidungen und den Widerstand gegen das Vordringen der Kommerzialisierung in alle Lebensbereiche; den Kampf gegen Privatisierungen und für eine Demokratisierung aller gesellschaftlichen Bereiche wie Universitäten, Schulen, öffentliche Verwaltung und Wohnen. Ein Übergang von der kapitalistischen Profitlogik zur Produktion für die gesellschaftlichen Bedürfnisse ist nicht möglich ohne eine grundlegende Demokratisierung der Wirtschaft (vgl. Widerspruch Heft 55), der Gesellschaft und des Staates. Dazu muss eine weitere Aushöhlung der Demokratie durch Vollmachtenbeschlüsse einerseits und Verabsolutierung von Volksentscheiden und Aushebelung der Grundrechte andererseits, und durch Ausbau des Sicherheits- und Überwachungsstaates entschieden bekämpft werden. Es ist erschreckend, mit welcher Gleichgültigkeit bei uns die Überwachung von kritischen Gruppierungen durch private Konzerne wie Nestlé und Securitas hingenommen wird und solche Firmen nicht sogleich boykottiert werden.
Die vierte Leitlinie zielt auf die gesellschaftliche Aneignung, das heisst die Ausdehnung des demokratisch kontrollierten staatlichen Sektors und der Kooperativen und Genossenschaften. Die Bankenkrise 2008 hat deutlich gezeigt, dass in der Schweiz der Finanzplatz völlig überdimensioniert ist und grosse Risiken für die ganze Gesellschaft in sich birgt. Das Problem kann nur dadurch gelöst werden, dass die Grossbanken mit ihren Grossrisiken („too big to fail“) verkleinert werden (Trepp 2009) und gemäss dem Trennbankensystem aufgeteilt werden. Das Kredit- und Zahlungsgeschäft soll als Service public mit Staatsgarantie und demokratischer Kontrolle geführt werden, während die Investitions- bzw. Spekulationsgeschäfte, die stark besteuert werden müssen, den Privatbanken überlassen bleiben, die aber keinerlei Staatsgarantie besitzen und auch nicht „gerettet“ werden müssen.
Von zentraler Bedeutung ist der Kampf gegen die Privatisierung und die Kommerzialisierung aller Lebensbereiche, die heute immer absurdere und schädlichere Dimensionen annimmt. In Zusammenarbeit mit Bewegungen gegen eine Kommodifizierung z.B. des Bildungs- und Gesundheitsbereichs müssen Privatisierungen rückgängig gemacht werden; darüber hinaus brauchen wir einen ausgedehnten demokratisch gestalteten Service public, nicht nur in traditionellen Bereichen wie im Transport, bei der Ausbildung und im Gesundheitsbereich. Teile des Bankenbereichs (Kredit- und Zahlungsgeschäft), die Informationsverarbeitung und die Pharmaindustrie sind als Service public zu führen und auszugestalten z.B. mit einem demokratisch kontrollierten öffentlich-rechtlichen Pharmakonzern (Ringger 2008).
Die Umwelt wird sich mit sogenannt marktkonformen Umweltmassnahmen nicht retten lassen. Die fünfte Leitlinie fordert deshalb den Widerstand gegen umweltschädliche Technologien und Produktionsformen und den Kampf für die ungehinderte Verbreitung und Förderung umweltverträglicher Technologien. Umweltverträgliche Technologien, z.B. beim Hausbau, müssen vorgeschrieben und subventioniert werden, weil sie sonst keine Chance haben. Patente insbesondere im Bereich der Landwirtschaft und der damit verbundenen Monopolisierungsstrategien im Agrobusiness sind zu beseitigen. Grundsätzlich soll das Prinzip der Subsidiarität zur Geltung kommen, nach dem die lokale und regionale Produktion gefördert werden soll, um eine umweltverträgliche Konsumation zu ermöglichen. In den Ländern des Südens, wo Frauen die Hauptarbeit in der Subsistenzwirtschaft leisten, sind diese die Hauptopfer der Umweltzerstörung, der Gewalt des Agrobusiness, des Landraubs und der Nahrungsmittel- und Hungerkrisen (Wichterich 2009). Diese Probleme können durch eine „zweite grüne Revolution“ und mithilfe von Gentechnik nicht gelöst werden. Notwendig sind im Gegenteil tiefgreifende wirtschaftliche Reformen, wie eine Landreform und ein demokratische Kontrolle der agrochemischen Konzerne.
Die sechste Leitlinie ist die Deglobalisierung: Jedes Land hat das Recht auf souveräne Entscheidungen unabhängig von imperialistischen Einmischungen. Undemokratische Institutionen wie IWF, Weltbank und WTO sind zurückzudrängen und durch regionale Kooperation und solidarische Zusammenarbeit nach dem Vorbild der lateinamerikanischen Alba-Staaten zu ersetzen. Die Schweiz soll sich aus den erwähnten Institutionen und insbesondere aus dem Investitionsgericht der Weltbank, dem CIADI, zurückziehen zugunsten einer aktiveren Mitarbeit in den Gremien und Institutionen der UNO. Die Schulden der ärmeren Länder des Südens sollen gestrichen werden, und internationale und bilaterale Freihandelsabkommen müssen symmetrisch sein. Wichtig ist auch die Verstärkung der Arbeit, wie sie von MultiWatch mit begrenzten Kräften geleistet wird. Die Politik der Schweizer Banken, Versicherungen, der Rohstoff-, Grosshandels- und Nahrungsmittelunternehmen als auch der Pharma- und Agromultis in den Ländern des Südens ist zu überwachen; gegen diese Konzerne sind aufklärende Kampagnen zu organisieren.

Wie durchsetzen?
Wie sollen diese Leitlinien bzw. Zielsetzungen umgesetzt werden? In der Schweiz sicher nicht im Konsens mit den bürgerlichen Kräften. Angesagt sind eine radikale Widerstandspolitik, die den wirtschaftlichen und sozialen Problemen auf den Grund geht, und der Bruch mit der Konsens- und Konkordanzpolitik, welche die Entpolitisierung in einem hohen Ausmass fördert. Ebenso unumgänglich ist der Widerstand in den Betrieben gegen die Abwälzung der Krisenfolgen auf die Lohnabhängigen, gegen die Kommodifizierung und Kommerzialisierung aller Lebensbereiche, wie er mit den Studentenprotesten begonnen hat. Politisieren und aktivieren lässt sich die Basis aber nur, wenn die Utopie einer selbstverwalteten und radikal demokratisierten Gesellschaft auch in praktischen, detaillierten Forderungen konkretisiert wird, welche zu Aktionen und Kampagnen motivieren. Von grosser Bedeutung ist dabei die Zusammenarbeit von Gewerkschaften und neuen sozialen Bewegungen, auch wenn sie in verschiedenen Organisations- und Aktionsformen tätig sind und mobilisieren (Harvey 2005).
Radikale Widerstandspolitik ist wichtig, sie genügt aber nicht. Bei der Realisierung von Alternativen stellt sich die Machtfrage, die Frage der Macht im Staat, welcher heute von den neoliberalen Kräften und Wirtschaftseliten für ihre Zwecke mit einigem Erfolg instrumentalisiert wird (Harvey 2009, Sader 2009). In dieser Frage von grosser Bedeutung ist der Aufbau einer kämpferischen Gewerkschaftsbewegung. Diese muss nicht nur konfliktfähiger werden, sondern auch politischer handeln, indem sie sich z.B. für gesetzliche Mindestlöhne, eine Ausdehnung und demokratische Ausgestaltung des Service public oder einen Einbau der 2. Säule in die AHV einsetzt. Nötig sind auch demokratische Organisationsreformen, der Abbau der von Männern dominierten Hierarchien und die Förderung von Frauen (Albo 2000). Nicht nur eine Erneuerung, sondern ein eigentlicher Wiederaufbau der radikalen politischen Linke ist dringlich, eine Sammlung der zersplitterten Linken in Organisationen, welche nicht hauptsächlich nach parlamentarischen Mechanismen funktionieren und mit Karrieren locken, sondern eine Widerstandspolitik betreibt, die sich auf die Kooperation mit sozialen Bewegungen und Gewerkschaften abstützt.
Von ganz zentraler Bedeutung ist heute auch das Zusammenwirken der Gewerkschaften und der sozialen Bewegungen in den Zentren mit denjenigen in den Ländern des Südens, insbesondere mit Bewegungen und Regierungen in Lateinamerika, welche sich der neoliberalen und imperialistischen Hegemonie entgegenstellen.

Literatur
Albo, Gregory, 2009: The crisis of neoliberalism and the impasse of the union movement. In: Development dialogue, no.51
Altvater, Elmar, 2009: Ökonomische Krise, „Green new deal“ und die „zerstäubte Linke“. In: Sozialismus, Heft 11, November
Amin, Samir, 2009: Beyond Bandung: Awakening of the South. Challenging the imperialist dimension of capitalism. http://www.pambazuka.org
Baumann, Hans, 2009: Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf die europäische Bau- und Holzwirtschaft und gewerkschaftliche Gegenstrategien. Unveröff. Manuskript
Bayer, Kurt, 2009: „Neoliberalism“ and development policy – Dogma or progress? In: Development dialogue, no.51
Bello, Walden, 2002: Deglobalisation. Ideas for a New World Order. London
Bello, Walden, 2009: Capitalism’s Crisis and our Response. http//focusweb.org
Bischoff, Joachim, 2009: Deflationäre Abwärtsspirale? In: Zeitschrift Sozialismus, 36.Jg. H.12
Bond, Patrick, 2009: Realistic postneoliberalism – A view from South Afrika. In: Development dialogue, no.51
Brand, Ulrich / Sekler, Nicola: Postneoliberalism: catch-all word or valuable analytical and political concept? In: Development dialogue, no.51
Burchardt, Hans-Jürgen, 2008: Die Herausforderung Lateinamerika. Zur Kritik des Demokratiebegriffs in der Transitionsforschung. In: Widerspruch, Heft 55, Zürich
Denknetz-Fachgruppe Politische Ökonomie, 2009a: Sicherung der Altersvorsorge: Modellvorschlag für eine Totalrevision. In: Denknetz Jahrbuch 2009, Zürich
Denknetz-Fachgruppe Politische Ökonomie, 2009b: Für eine Schweiz ohne Beihilfe zur Steuerhinterziehung. In: Denknetz Jahrbuch 2009, Zürich
Development dialogue 51, 2009 : Postneoliberalism – A beginning debate, Uppsala
Duménil, Gerard / Lévy, Dominique, 1996: La dynamique du capital: Un siècle d`économie américaine. Paris
Eberle, Willi / Schäppi, Hans, 2006: Über den Keynesianismus hinaus. Widerspruch Heft 50, Zürich
Harvey, David, 2005: Der neue Imperialismus. Hamburg
Harvey, David, 2009: Der Finanzstaatsstreich. Ihre Krise, unsere Haftung. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 7
Huffschmid, Jörg, 2007:Internationale Finanzmärkte: Funktionen, Entwicklung, Akteure. In; Huffschmid, Jörg / Köppen, Margrit / Rhode, Wolfgang (Hg.): Finanzinvestoren – Retter oder Raubritter. Hamburg
Husson, Michel, 2008: Un pur capitalisme, Lausanne
Krätke, Michael R., 2006: Der alte Staat in der neuen Weltordnung. Widerspruch Heft 51, Zürich
Rieger, Andreas, 2009: Die Sieger sind die Banken. In: Work, 4. 12.
Ringger, Beat, 2008: Die demokratische Bedarfswirtschaft. In: Zukunft der Demokratie. Das postkapitalistische Projekt. Zürich
Ringger, Beat, 2008a: Chávismo und partizipatorische Demokratie in Venezuela. In: Widerspruch, Heft 55, Zürich
Roth, Karl Heinz, 2009: Die globale Krise – Globale Proletarisierung – Gegenperspektiven. Bd.1, Hamburg
Ryser, Daniel, 2009: Doppelter Verfassungsbruch. Interview mit Rainer J. Schweizer. WOZ, 9.7.
Sader, Emir, 2009: Postneoliberalism in Latin America. In: Development dialogue no. 51
Schäppi, Hans 2008: Krise des Finanzmarkt-Kapitalismus. Globale Alternativen. In: Widerspruch, Heft 55, Zürich
Trepp, Gian, 2009: Augen zu und doch nicht durch. In: WOZ, 30.10.







Hans Schäppi


 
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