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Eine Kulturrevolution in der Schweizer Gewerkschaft
06.12.2010 | 14:24 Uhr

Vom Apparat zurück zur Basis: 3000 Vertrauensleute werden zum Kern der Gewerkschaft. Von Oliver Fahrni - 2.12.2010

Problematischer für unsere sozial rauheren Zeiten:
Die Stellvertretergewerkschaft hat ausgedient. Wir müssen eine Gewerkschaft erfinden, die wieder vermehrt von ihren Mitgliedern getragen wird.»


Diese Rolle war neu für die Gewerkschaftssekretäre: sie mussten für einmal zuhören, protokollieren, übersetzen. Mehr nicht. Co-Präsidenten und Geschäftsleitungsmitglieder ebenfalls. Das Wort hatten am 18.September in Olten die Vertrauensleute. Sie sind, wie einer der Milizler sagte, «das Blut in den Adern der Gewerkschaft».
Und sie hatten einiges zu sagen. Vertrauensleute heissen die besonders aktiven Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter. Weil sie das Vertrauen ihrer Kolleginnen und Kollegen geniessen, wenn es darum geht, bessere Arbeitsbedingungen zu erkämpfen. Oder Arbeitsplätze zu verteidigen. Doch diese Gewerkschaftsarbeit ist schwierig und kann selten während der Betriebsstunden stattfinden. Zudem sind Vertrauensleute schlecht vor Repressalien der Manager und Unternehmer geschützt.
Kritik gab’s in Olten auch an den Unia-Profis. Manche Vertrauensleute fühlen sich schlecht informiert und beraten, ungenügend gestützt und ausgebildet. Es sei schon vorgekommen, erzählte eine Unia-Kollegin, dass sie nicht von Gesprächen zwischen einem Unia-Sekretär und der Betriebsleitung erfahren habe.
In 19 Arbeitsgruppen schlugen die Vertrauensleute Lösungen vor und stellten Forderungen auf (work berichtete darüber, siehe auch www.unia.ch/Unia-Forte).

HÄRTERE KÄMPFE Was die Vertrauensleute an ihrem ersten nationalen Treffen zusammentrugen, war das greifbare Resultat einer Kulturrevolution in der Unia. Sie begann vor drei Jahren. Unter dem Titel Unia Forte soll eine radikal verwandelte Gewerkschaft entstehen: vom Apparat zurück zur Basis und zur Gewerkschaft der Vertrauensleute. Die schon basisdemokratische Unia soll weiter demokratisiert werden.
In den kommenden Jahren sollen 2000 bis 3000 Vertrauensleute gewonnen, vernetzt und in ihrer Rolle gestärkt werden – sowohl in den Betrieben wie in der Gewerkschaft.
Für Unia-Zentralsekretär Vasco Pedrina (Ex-Co-Präsident der Unia) ist dies ein entscheidender Schritt, um die Schlagkraft der Gewerkschaften zu erhöhen: «Das alte Gewerkschaftsmodell ist an seine Grenzen gestossen.» In den ersten Jahrzehnten der Gewerkschaftsbewegung machten die Arbeitenden die Gewerkschaftsarbeit. Mit der Zeit konnten die Gewerkschaften Profiapparate aufbauen. Gut für Zeiten von Wachstum und Sozialpartnerschaft. Problematischer für unsere sozial rauheren Zeiten. «Heute leisten Profis den überwiegenden Teil der Gewerkschaftsarbeit. Die aktive Präsenz in den Betrieben wird immer schwieriger. Diese Form von Gewerkschaft funktioniert nicht mehr. Wir sind jetzt an einer Bruchstelle: Die Stellvertretergewerkschaft hat ausgedient. Wir müssen eine Gewerkschaft erfinden, die wieder vermehrt von ihren Mitgliedern getragen wird.»

DICHTE NETZE KNÜPFEN Vania Alleva, Chefin Tertiär, hat den Vertrauensleutegipfel organisiert. Sie nennt es «die grosse Herausforderung: Die Unia muss nicht mehr für ihre Mitglieder, sondern mit ihnen arbeiten.» Und das nicht nur am Arbeitsplatz, sondern auch in ihrem sozialen Umfeld: «Wir müssen umdenken. Das Prinzip heisst: Nicht von aussen handeln, sondern von innen.»
Im Unia-Sektor Bau und mehr noch im Sektor Industrie spielen Vertrauensleute heute schon eine stärkere Rolle als in anderen Bereichen. Arbeitende der Mem-Industrie und in der chemischen Industrie etwa sind Teil der GAV-Verhandlungsdelegationen. Die Uhrenindustrie kennt sogar offizielle Gewerkschaftsdelegierte. Unia-Industriechef Corrado Pardini: «Da ist noch viel zu tun. Die Stärkung der aktiven Basisleute erreicht man zuerst in den Betriebsgruppen, Regionen, Sektionen. In Branchenkonferenzen, Verhandlungsdelegationen und bei Konflikten. So gewinnen die Vertrauensleute neue Kraft und Identität.»
Ohne echte Mitbestimmung sei keine stärkere Gewerkschaft zu bekommen, meint Pardini: «Wenn man eine Mitgliederorganisation werden will, muss man die Macht dort konzentrieren, wo die Mitglieder sind.»
Die Stärkung der Vertrauensleute braucht also nicht nur einen stark verbesserten Schutz der Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter im Betrieb und eine Offensive für eine umfassende politische Bildung. Sie verlangt auch eine grundlegende Demokratisierung der Gewerkschaft.
Und das, so weiss Vania Alleva, bedeutet auch eine neue Praxis der Profis: «Unia Forte, der Umbau und Demokratisierungsprozess, muss in den Regionen verwurzelt werden.» Konkret: Betriebsgruppen müssen geschaffen oder gestärkt, dichte Netze von Vertrauensleuten geknüpft werden.
Am Ende bilden eine hochprofessionalisierte Organisation und ein starker Kern von Vertrauensleuten zusammen eine Gewerkschaftsbewegung. Die sorgt in den Betrieben für gute Arbeitsbedingungen und kämpft zugleich als soziale Kraft für eine bessere Wirtschaftsordnung.

«DAS ZIEL IST GUT» Eine erste Etappe geschieht am letzten Novemberwochenende. Am ausserordentlichen Unia-Kongress in Lausanne steht ein 79-Punkte- Entwurf «Stärkung der Unia-Vertrauensleute» zur Debatte.
Eines wissen die Vertrauensleute und Sekretäre sicher: Der Weg zur anderen Gewerkschaft braucht einen langen Atem. Und etliche Jahre. «Kein Problem», meint eine jüngere Vertrauensfrau aus der Innerschweiz: «Das Ziel ist gut.»

work, 2.12.2010




 
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