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Die Islam-Hysterie
18.02.2011 | 18:08 Uhr

Die Islam-Hysterie17.02.2011
Montagmorgen, 7. Februar 2011: Telefonanruf meines deutschen Verlegers aus München. Er ist verärgert, weil ich mich geweigert hatte, am Vorabend an der Fernsehtalkshow von Anne Will teilzunehmen. «Die grösste, prestigereichste Politsendung in Deutschland…und Sie sagen ab. Das ist verantwortungslos! Drei Millionen Zuschauer! Denken Sie doch auch mal an den Verkauf Ihrer Bücher.»
Die Berliner Redaktion der Talkshow hatte mich tatsächlich am Freitag zuvor angerufen. Ich sollte unbedingt in ihre Sendung kommen. Es gehe um die Gefahr des Islams in der ägyptischen Revolution. Und auch in Tunesien. Um es kurz zu machen: Ich ertrage dieses Geschwätz über den Islam nicht mehr. Sobald im arabischen Raum ein Volk aufsteht gegen die israelisch-amerikanische Söldnerdiktatur, redet die westliche Presse nur noch von der «islamistischen Gefahr».

GENUG! Über dreihundert junge Frauen und Männer wurden allein in Kairo von Scharfschützen der Polizei in den letzten vierzehn Tagen ermordet. Sie gehörten zur Kefaya- Bewegung (Kefaya, arabisch für «genug») oder zu der prodemokratischen «Bewegung des 6. April», die nach einem Textilarbeiterstreik (2008) entstanden war. Beide sind für die strikte Trennung von Religion und Staat. Ich wiederhole mich hier und anderswo gerne und sage: Es sitzen heute auch Vertreter der mächtigen Muslimbruderschaft am Verhandlungstisch. Die Muslimbrüder machen Politik mit der Religion. Genau wie die schweizerische CVP. Seit dem letzten Jahr wird die Bruderschaft von Muhammad Badie angeführt. Er setzte sich in einem internen Machtkampf durch. Badies politisches Vorbild ist Recep Erdogan, der türkische Ministerpräsident. Wie dessen Organisation, die AKP, soll auch die Bruderschaft nach den Vorstellungen Badies zu einer demokratischen Partei werden, die die Trennung von Kirche und Staat achtet. Tatsache ist jedenfalls, dass in dieser riesigen Mittelstandsbewegung fundamentalistische Strömungen verschwindend klein sind.

VORURTEILE. Hassan al-Banna, der Grossvater meines Genfer Freundes Tariq Ramadan, gründete die Bruderschaft 1928 als antikolonialistische, antibritische Bewegung. Er wurde 1949 gehängt. Gamal Abdel Nasser und seine Freien Offiziere verjagten den ägyptischen König Faruq im Juli 1952. Nach anfänglicher Zusammenarbeit verboten sie 1954 die Muslimbruderschaft. Seitdem lebt die Bewegung im Untergrund.
Doch in allen armen Quartieren der Städte, in den elenden Dörfern Oberägyptens, bei den Kleinbauern des Nildeltas ist sie präsent. Dort führt sie Spitäler, Volksbäckereien und Grundschulen. Zum ersten Mal erscheint sie heute auch offiziell auf der politischen Bühne. Ihr potentieller Wähleranteil wird auf 35 Prozent geschätzt. Die europäische Presse, auch und vor allem die helvetische, zeigt sich beim Thema Muslimbrüder uninformiert und voller Vorurteile. Das ägyptische Volk braucht dringend die aufgeklärte, demokratische Solidarität und keine antiislamische Diffamierung.


Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor. Sein jüngstes Buch, «Der Hass auf den Westen», erschien auf deutsch im Herbst 2009.




 
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