14.05.2009
Seit über vier Wochen herrscht Schweinegrippealarm auf unserem Planeten. Wir sind 6,3 Milliarden Menschen, 53 sind bis Anfang dieser Woche an Schweinegrippe gestorben.
APOKALYPSE. Seit vier Wochen steht Gregory Hartl, der elegante Sprecher der Weltgesundheitsorganisation (WHO), in Genf jeden Tag um 16 Uhr vor dem versammelten Uno-Pressekorps und gibt apokalyptische Sprüche von sich. Zum Beispiel: «Ein Drittel der Menschheit – also 2,1 Milliarden Menschen – ist von der Schweinegrippe bedroht. Sie kann jederzeit zur Pandemie werden. » Eine Medienkampagne gigantischen Ausmasses läuft um die Welt. Beobachter argwöhnen, dass der Pharmakonzern Hoffmann- La Roche, Besitzer des Patents von Tamiflu, des einzig bekannten Gegenmittels, diese Kampagne steuert. Die ganze Aufregung zeigt, in welcher Schizophrenie die westliche Welt lebt. Während die globale Medienkampagne läuft und täglich durch die WHO angeheizt wird, sterben in eisiger Normalität und absoluter Stille 100000 Menschen pro Tag an Hunger oder seinen direkten Folgen. Ich komme gerade zurück aus der westafrikanischen Republik Niger. Dort habe ich Sar besucht, ein bescheidenes, kleines Dorf am Südrand der Sahara. Sechs Ordensschwestern aus der Kongregation von Mutter Teresa unterhalten hier ein Lazarett: zwei langgestreckte, niedrige Betonbaracken mit Blechdächern, ein Nahrungsmittel- und Medikamentendepot, eine Kapelle. Mitten im staubigen Hof steht ein Baobab-Baum. Eine drei Meter hohe Mauer, gespickt mit Glasscherben, umringt das Lazarett. Jeden Morgen drängen sich 400 bis 500 geduldige Mütter mit vor Verzweiflung fast ausdruckslosen Augen, ihre halbverhungerten Kinder im Arm, vor dem Eisentor. Viele von ihnen sind über hundert Kilometer weit gewandert, tage- und nächtelang. Sobald über den dürren Sträuchern die rote Sonnenkugel in den Himmel steigt, öffnet sich das Tor.
REALITÄT. Eine Schwester tritt heraus, schreitet die Menschenschlange ab und wählt einige Kinder aus. Totenstille herrscht auf dem Platz vor dem Tor. Die Schwester verschwindet mit den paar Kindern und ihren Müttern im Lazarett. Sie schliesst das Tor hinter sich ab. Das Lazarett hat 60 Plätze für schwer geschädigte Kinder. Die Behandlung dauert zwölf Tage. Dann kehren neun von zehn aufgenommenen Kindern ins Leben zurück. Hätten die Ordensschwestern das Doppelte ihres kargen Budgets, könnten sie doppelt so viele Kinder aufnehmen. Ein bereits halbverhungertes Kind zu retten, ist lächerlich einfach: Es braucht bloss eine Baracke, eine Matte auf dem Boden, eine Sonde und therapeutische Milch. Nach 12 Tagen ist das Kind wieder gesund. In Sar ist die WHO nicht präsent. Auch nicht die Journalisten. Sie kümmern sich lieber um die Schweinegrippe.
Jean Ziegler ist Mitglied des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates, alt SP-Nationalrat, Professor für Soziologie an der Universität Genf und Autor.
work, 14.05.2009
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