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Erklärung an das Europäische Sozialforum in Istanbul
20.06.2010 | 19:33 Uhr

"Es gibt kein "Sparpaket " der schwarz/gelben Regierung …,
sondern eine politische Grundsatzentscheidung, die Besitzstandsbürger
und global agierenden Unternehmen dieser Republik des Eigentums durch
eine Einnahmeerhöhung an den Kosten der Spekulationskrise und dem
"Terror der Ökonomie" (Viviane Forrester) zu beteiligen.“

Die asoziale Kürzungsliste ist erst der dosierte Anfang eines erklärten
Staatsumbaus: In den vergangenen Jahren wurde schon ein Drittel der
abhängig beschäftigten Bevölkerung zuerst mit Armutslöhnen "verwertet",
um dann mit Hartz-Gesetzen ausgegrenzt und in den bürgerlichen
Freiheitsrechten eingeschränkt zu werden.
Nun soll es offensichtlich einen Schritt weiter gehen. Die Weichen für
ein schwarz/gelbes HartzV werden gerade von der Arbeitsministerin Ursula
Gertrud von der Leyen vorbereitet. Die Einführung der "Bürgerarbeit"
wird mit einer sozialen Rhetorik propagandistisch verpackt. Die Praxis
des zukünftigen mehrstufigen Verfahrens sieht anders aus und schafft die
notwendige Matrix für eine "formierte Gesellschaft", wo das Recht auf
ein würdiges Leben und die dafür notwendigen Transferleistungen
gekoppelt werden an zwangsweise Beschäftigungen in den Kommunen und in
dem "sozial-industriellen Komplex" von Caritas, Diakonie, Treber-Hilfe & Co.
Die Gewerkschaften werden sich entscheiden müssen, ob sich wieder
Funktionäre an der Legitimierung der stufenweisen Einführung von
workfair-Modellen beteiligen werden oder ob sie bereit sind, sich in der
Alltagswelt auf Auseinandersetzungen um die Qualität der Erwerbsarbeit
und um die Garantierung von Löhnen jenseits der nackten
Existenzsicherung einzulassen.
Die politische Klasse ist sich weitgehend einig, dass eine Kontinuität
der großen Gewinne und Einkommen im oberen Bereich Vorrang haben soll
vor dem gesellschaftlichen Wert der sozialen Gerechtigkeit und dem
Verfassungsgebot der vergleichbaren Lebenslagen. Mit dem sogenannten
"Schuldendeckel" wurde versucht, dieser unsozialen Umverteilungspolitik
noch in der Zeit der schwarz-roten Koalition Verfassungsrang zu geben.
Gleichzeitig wurde die finanzielle Ausstattung der Kommunen systematisch
eingeschränkt.
Was diese Bundesrepublik des Eigentums, des Drittels der Bevölkerung,
die über 90% des Eigentums in Deutschland und des (welt)gesellschaftlich
produzierten Reichtums verfügen, unter Gerechtigkeit versteht, das wurde
von den Regierenden mit dem sogenannten Sparpaket demonstriert:
Die Perspektive der Mehrheit der abhängig Beschäftigten ist Altersarmut
auf HartzIV-Niveau, wenn ihre Erwerbsbiographie durch Rationalisierung
und Produktivitätssteigerung beendet ist. Sie sollen Teil des
überflüssigen Restes werden, der für die Verwertung in der Lohnarbeit
nicht mehr benötigt wird, der als "Reservearmee" der Erwerbslosen die
Beschäftigten disziplinieren soll.
Familienförderung und Elterngeld war die propagandistische Sozialpolitik
der Konservativen. Jetzt wurde offen ausgesprochen: Dieser Staat will
die richtigen Kinder frühzeitig zu zukünftigen Leistungsträgern in der
Konkurrenzgesellschaft erziehen lassen, und für die falschen Kinder der
Unterschicht darf es keine Anreize geben, muss das ständische
dreigliedrige, ausgrenzende Schul- und Bildungssystem um jeden Preis
aufrecht erhalten werden.

Gegen eine Relativierung des Terrors der Ökonomie – für das Recht auf
Demonstration und Widerstand!

Widerstand ist ein soziales Recht und der Ausgangspunkt gelebter Demokratie.
Ein Überleben unter HartzIV-Bedingungen, unter finanzieller Not,
erlebter Ausgrenzung und ständigen Sanktionsdrohungen macht krank, und
das nicht nur den einzelnen Menschen, sondern die gesellschaftliche
Mehrheit. Die Einschüchterung durch Gewalt wird nur zu mehr Gewalt führen.
Die Demonstrationen vom 12. Juni können und waren nur Teil eines Anfangs
von sozialen und politischen Auseinandersetzungen, die die Republik und
Europa verändern werden. Es liegt auch in unserer Hand, ob es gelingt,
mit europäisch abgestimmten Sozialprotesten uns nicht gegenseitig
ausspielen zu lassen.
Die Kollegen von der Polizei werden sich entscheiden müssen, ob sie sich
weiterhin an der Strategie der kontrollierten Eskalation und präventiven
Aufstandsbekämpfung beteiligen. Ihre Kollegen vom Objektschutz sind
genauso auf ergänzende ALG-II-Leistungen angewiesen, weil die Einkommen
dieser Bediensteten nicht mehr ausreichen, um die Lebenskosten einer
Familie zu finanzieren.
Der Interessenskomplex der Parteipolitiker/innen, Wirtschaftslobbyisten
und medialen Meinungsmacher/innen hat nach der Berliner Demonstration
die Gefahr einer neuen RAF herbeigeschrieben und versucht, sie in der
aktuellen Stunde des Bundestags herbeizureden. Die Botschaft war klar:
Sie wollen nicht über ihre asoziale Interessenpolitik reden, die mit
Allgemeinwohl nichts zu tun hat.
Sie wollen die Proteste im Vorfeld stigmatisieren und kriminalisieren,
bevor eine gesellschaftliche Mehrheit in den Protesten die Stimme für
eine gefühlte soziale Bedrohung und Ungerechtigkeit sieht, bevor
Menschen wie 2004 wieder selber tätig werden und sich das Recht der
Demokratie der Straße nehmen.
Wer selber die Demonstrationen der Sozialproteste von 2006 und die
Krisenproteste von 2009 erlebt hat, sieht nicht eine neue Qualität der
Gewalt, sondern ein wiederkehrendes Muster der versuchten
Kriminalisierung und Stigmatisierung durch polizeitaktisches Operieren:
Die Auflagen und Einschränkungen für die Demonstrationen werden ständig
erhöht.
Es werden formale Vorwände gesucht, um die Formation einzelner Blöcke
durch gezielte Angriffe an beengten Stellen aufzulösen (siehe auch die
Pressemitteilung des ABSP vom 20.6.10: http://bit.ly/d4Tp7J)
Je nach dem Grad der Geschlossenheit und Handlungsfähigkeit der
Demonstration kommt es zu zeitweisen Einkesselungen, Absperrungen und
Aufteilungen des Demonstrationszuges.
Kommt es zu einer Gegenwehr, und sei diese auch nur passiv und
gewaltfrei, werden systematisch Menschen gefilmt und Begründungen für
den Vorwurf des Widerstands gegen die Staatsgewalt/polizeiliche
Maßnahmen gesucht.
Die Abschlusskundgebung wird dann niederschwellig, aber systematisch
"destabilisiert", indem Polizeizüge im realen Nahkampf geschult werden,
weil die vorab ausgesuchten "Einzeltäter" aus der Menge heraus gegriffen
werden sollen.
Bei den Zugriffen werden menschliche und demokratische Schäden in Kauf
genommen, um die mediale Wirkung der Demonstration zu reduzieren, die
"normalen Bürger" davon abzuschrecken, sich mit den
"Kapitalismuskritiker/innen" einzulassen und um Verbände, NGO´s und
Gewerkschaften abzuschrecken, sich mit den "Radikalen" einzulassen.
Diese Politik des sozialen und politischen Bürgerkriegs gegen die
Habenichtse in dieser Gesellschaft ist die Gefährdung der Demokratie und
des Gemeinwesens.
Menschen, die aus der Gesellschaft ausgegrenzt werden, deren soziale und
politische Bürgerrechte in Frage gestellt werden, die tägliche Krisen
des Überlebens unter HartzIV-Verhältnissen kennen, haben nur das Mittel
der sozialen Unruhen. Und sie wissen, dass diese für sie immer mit
existenziellen Risiken verbunden sind.
Wer aber für das Recht auf ein Leben in Würde mit und ohne
Erwerbsarbeit, mit und ohne deutsche Staatsbürgerschaft kämpft, der
stellt nicht das Recht auf körperliche Unversehrtheit aller in Frage, ob
dieser Mensch eine Uniform trägt oder nicht. Wurfgeschosse aus der
Demonstration gefährden immer auch die Menschen, die sich an diesem Tag
das Recht auf die Straße genommen haben, die an diesem Tag eine
gemeinsame Stimme gegen die alltäglichen Zumutungen finden.
Wir müssen feststellen, dass sich die Regierenden und die polizeilichen
Ausführenden zu einer Politik der abschreckenden Gewalt entschieden
haben. Wir werden uns auch zukünftig nicht das Recht der Demonstration
nehmen lassen, und wir werden auch zukünftig dafür Sorge tragen, dass es
so wenig wie möglich Vorwände geben wird, um die Demonstrationen
anzugreifen und den gesellschaftlichen Protest gewaltsam aufzulösen.
Wir verteidigen soziale Grundrechte auf der Straße, im JobCenter und in
den Betrieben!

Für ein Leben in Würde für jeden Menschen, in Europa und weltweit – Für
eine europäische Agenda des Widerstands!

Die Hartz-Gesetze haben gegen die sozialen Verfassungsgebote verstoßen.
Das ist keine neue Erkenntnis, ist billigend von fast allen Parteien
demokratiegefährdend in Kauf genommen worden. Wir lassen uns auch nicht
durch die Kürzungspolitik der Regierenden ablenken: Die Regelsätze
müssen jetzt neu berechnet werden und mit einem Hartz-IV-Eckregelsatz
von wenigstens 500 statt 359 € ein Leben in Würde ermöglichen! Wir
werden dafür sorgen, dass diese Forderungen gemeinsam mit anderen, mit
Gewerkschaftern vor Ort, mit sozialen und politischen Gruppen in die
JobCenter hineingetragen werden, dass wir gegenseitig Arbeitskämpfe und
die Auseinandersetzung um einen lohnsteuerfreien gesetzlichen
Mindestlohn in Höhe von 10 € unterstützen. Wer Kurzarbeit finanzieren
kann, der kann auch eine 30-Stundennormalarbeitswoche bei vollem
Lohnausgleich durchsetzen.
Die Konflikte der Erwerbslosen entstehen aus dem täglichen Überleben.
Hier gibt es keine Bewegungskonjunkturen. Hier überzeugt nur die
alltägliche Arbeit, die kontinuierliche gegenseitige Unterstützung, um
wenigstens die bestehenden Rechte durchzusetzen, hier geht es nicht um
den politischen Event, sondern um praktische Gegenmacht durch erlebbare
Solidarität.
Die zukünftigen Krisenproteste brauchen beides, den Widerstand in den
alltäglichen Auseinandersetzungen von Menschen in prekären,
ungesicherten Lebenslagen mit und ohne Erwerbsarbeit und das dezentral,
dort wo die Menschen leben und arbeiten. Wir werden aber auch die
wahrnehmbare Macht der Vielen auf der Straße brauchen, um dem Protest
der Ausgegrenzten und Sprachlosen eine gemeinsame Stimme zu geben.
Die Proteste gegen dieses Krisenregime und gegen den Kapitalismus, der
die Krisen erzeugt, können sich nicht mehr auf nationale Grenzen
beschränken. Deshalb rufen wir die Versammlung der sozialen Bewegung des
europäischen Sozialforums auf: Nutzt die Gelegenheit und vernetzt euch!
Lasst uns einen europäischen Herbst des sozialen und politischen
Widerstands schaffen, denn die Krise ist der "Terror der Ökonomie" des
globalisierten Kapitalismus.

Aktionsbündnis Sozialproteste, Juni 2010





 
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