In der grossen Halle der Universität Genf hängt ein Riesenplakat mit dem Bild von Salvador Allende. Darunter steht: «Con lealtad siempre te saludamos» (In Treue fest bleiben wir dir für immer verbunden). Vor vierzig Jahren, am frühen Nachmittag des 11. September 1973, machte eine Gewehrkugel dem Leben des Präsidenten der Republik Chile im ersten Stock des brennenden Präsidentenpalastes ein Ende. 1970 war der 62jährige Kinderarzt und Sozialdemokrat aus Valparaiso an der Spitze der «Unidad Popular», einer breiten Koalition von Gewerkschaftern, Linksparteien und sozialen Bewegungen, zum Präsidenten gewählt worden.
SCHWEIZER ALBTRAUM. Merkwürdige Dokumente finden sich in der diplomatischen Korrespondenz der Schweiz. Aus Santiago schrieb der residierende Schweizer Botschafter Roger Dürr 1970 nach Bern: «Die Hausangestellten glauben jetzt, die Kühlschränke gehörten ihnen. Die Arbeiter meinen, die Privatclubs würden jetzt öffentliche Parks, die dann vom Pöbel verschmutzt und zertrampelt werden. Dieser Pöbel ohne Erziehung und Verantwortungsgefühl. Der politische Fanatismus hat über die Vernunft gesiegt.» Drei Jahre später, am 12. September 1973, kam wieder Post aus der chilenischen Hauptstadt. Diesmal berichtete der neue Botschafter Charles Masset enthusiastisch vom Militärputsch des Generals Augusto Pinochet: «Der Albtraum ist zu Ende. Die Ordnung ist wiederhergestellt.» (Zitate aus der Doktorarbeit von Yvo Rohic, Universität Freiburg) Tausende Männer und Frauen wurden verhaftet, standrechtlich erschossen oder im Massengefängnis (dem früheren Nationalstadion) gefoltert. Als einzige europäische Botschaft verweigerte sie den in der Schweiz Hilfesuchenden den Eintritt. Nur Jacques Pilet, Reporter der «24 heures» aus Lausanne, der sich zufällig in Santiago befand, wurde von Masset am Abend des 11. September eingelassen, zu einem Champagnerfest. Im Berner Aussendepartement regierte damals SP-Mann Pierre Graber. Indifferent und geistig träge wie gewohnt. Aber die Linke, die Kirchen, die Gewerkschaften waren erwacht. Sie zwangen den Bundesrat, einige Hundert Flüchtlinge ins Land zu holen.
DIE FAVORITIN. Im kommenden November sind Präsidentschaftswahlen in Chile. Favoritin ist Michelle Bachelet, die Kandidatin der Linkskoalition. Ihr Vater, ein Allende-loyaler Luftwaffengeneral, war von Pinochets Henkern so schwer gefoltert worden, dass er starb. Michelles Mutter und sie selbst überlebten die Torturen. Dank dem Internationalen Roten Kreuz konnten sie in die damalige DDR fliehen. Ein Redner in der Genfer Aula sagte zu Bachelets Kandidatur: «Das ist die Auferstehung von Salvador Allende.»
Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor. Sein neuestes Buch, «Wir lassen sie verhungern», ist im September 2012 auf deutsch erschienen.
Foto unten: Allende-Gedenken-Veranstaltung in Basel im Sept. 2013
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