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»Viele steigern sich in ein Durchhaltesyndrom«
30.05.2007 | 15:01 Uhr

Leistungsdruck und Konkurrenzkämpfe am Arbeitsplatz führen immer häufiger zu Depressionen. Ein Gespräch mit Wolfgang Hien

Jan Eisner

Wolfgang Hien ist Lehrbeauftragter der Universität Bremen für Public Health und Autor der Zeitschrift Gute Arbeit. Dort hat er zuletzt eine Studie über den Zusammenhang von Depressionen und Arbeitsbedingungen veröffentlich
Die Geschäftsführerin des Allensbach-Instituts, Renate Köcher, schreibt in der WirtschaftsWoche (21/07), die Stimmung in der Bevölkerung werde angesichts des Wirtschaftswachstums mit jedem Tag besser; die Mehrheit rechne mit einem anhaltenden konjunkturellen Aufwärtstrend. Gibt es noch Gründe, depressiv zu sein?

Das sind für mich keine ernstzunehmenden Daten. Das sind Telefonumfragen mit einer hohen Selektion sozial bessergestellter Personen. Derartige Meldungen sagen nichts über die Befindlichkeiten vieler Menschen in diesem Land – und die schauen durchaus nicht so optimistisch in die Zukunft, wie die öffentliche Meinungsmache es glauben machen will.

Wo liegen die größten Risikofaktoren für Depressionen und andere psychische Störungen im Arbeitsleben?

Das Problem liegt in den Veränderungen des Arbeitslebens seit den achtziger Jahren: Die Sicherheiten einer Normal­arbeitsbiographie, eines festgefügten Lebenslaufs mit seinen Vor- und Nachteilen sind verschwunden. Was wir jetzt haben, ist das, was von Liberalen als der Beginn der großen Freiheiten gelobt wird: Die Menschen können sich ihren Lebensweg selbst auswählen, aber sie sind auch in eine Welt größter Unsicherheit geworfen, die Angst macht und in denen die Gesetze des Sozialdarwinismus herrschen. Die Stärkeren können –zumindest für eine gewisse Zeit –daraus als Sieger hervorgehen und sich dabei gutfühlen, aber die nicht so Starken, die Sensibleren, sind auf der Verliererseite. Mit diesen Kränkungen ist massenhafte Krankheit programmiert. Statt die gesellschaftlichen Risiken, die erbarmungslosen Bedingungen des Arbeitsmarktes, zu benennen, wird den Betroffenen mit dem Etikett »fehlende Resilienz« – das meint: eine mangelnde psychische Stärke – die Schuld in die Schuhe geschoben.

Läßt sich belegen, daß seit Anfang der achtziger Jahre die Zahl der psychischen Erkrankungen gestiegen ist?

Wenn wir den Bundesgesundheitssurvey zugrundelegen, dann ist innerhalb der Erwerbsbevölkerung die Quote der psychisch Erkrankten gestiegen. Es gibt allerdings auch eine Gegenmeinung innerhalb der Psychiatrie. Es wird argumentiert, psychische Erkrankungen würden nicht mehr so tabuisiert wie früher. Ich denke aber nicht, daß diese Einwände letztlich stichhaltig sind. Nach wie vor ist es in bestimmten Berufen unmöglich zu sagen, daß man eine schwere Depression hat. Dann bitten die Arbeiter oder Angestellten oft den Arzt, etwa eine Rückenerkrankung aufzuschreiben, weil sie vor Stigmatisierung Angst haben. Das wahre Ausmaß der psychischen Erkrankungen ist daher eher größer als das, was wir im Augenblick statistisch feststellen können.

Der Neoliberalismus proklamiert eine Siegerideologie, in der man, wenn man schon verliert, direkt weiterzumachen hat. Depressionen oder psychische Erschöpfung sind nicht vorgesehen. Macht es das zusätzlich schwierig, psychische Erkrankungen zu überwinden?

Wir haben einen sehr niedrigen Stand der Arbeitsunfähigkeitsschreibungen und der ist aus gesundheitswissenschaftlicher Sicht eher besorgniserregend. Viele steigern sich in ein Durchhaltesyn­drom hinein. Sehr viel mehr Menschen gehen heute zur Arbeit, obwohl sie medizinisch gesehen krank sind. Dieses Durchhaltesyndrom führt auf längere Frist zu ernsteren Zusammenbrüchen. Und dann ist es durch die veränderte Gesetzgebung sehr viel schwerer gemacht worden, eine Erwerbsunfähigkeitsrente zu erhalten. Viele eigentlich Erwerbsunfähige landen auf den Abstellgleisen von Hartz IV und Sozialgeld.
Sie waren bis 2005 Referatsleiter für Gesundheitsschutz beim DGB-Bundesvorstand. Gibt es in den Gewerkschaften ein ausreichendes Problembewußtsein für diese Fragen?

Leider nein. Die Gewerkschaften schauen nach wie vor, wo ihre derzeitige Hauptklientel ist – und das sind die Kernbelegschaften der Großbetriebe. Diese Orientierung finde ich grundlegend falsch. Sie müßten einen Neuanfang wagen und sich auf eben jene wachsende und inzwischen mehrheitliche Zahl der Erwerbstätigen konzentrieren, die in unsicheren, prekären Arbeitsverhältnissen leben. Man muß diese Menschen mit ihren Problemen und Sorgen ansprechen und eine ganz andere Art von Dienstleistungskultur für sie entwickeln. Gewerkschaften sind einmal entstanden, um den vielen Schwachen zu helfen und sie zu organisieren. Es wäre gut, sich dessen zu erinnern.



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