Wie Pharmafirmen Ärzte überzeugen, neue Patienten für ihre Medikamente zu gewinnen
Die Pharmaindustrie steht weltweit unter starkem Druck. Echte Neuerungen sind rar, billige Generika lassen dieUmsätze bröckeln. Die Marketingabteilungen der Konzerne setzen alles daran, die Ärzte zum Verschreiben ihrer Präparate zu bewegen. Dabei fliesst, trotz Bemühungen, dies zu unterbinden, offenbar auch Geld. Im kürzlich erschienenen Buch «Kranke Geschäfte» beschreibt der Journalist Markus Grill, wie das Spiel in Deutschland läuft. Auch Novartis beteiligt sich an zweifelhaften Praktiken. So belegt der Journalist, wie die deutsche Novartis-Tochter im September 2006 eine Marketingkampagne einleitete, dank der die Umsätze etablierter Kassenschlager wie der Blutdrucksenker Diovan und Codiovan bis Jahresende um 600 Mio. $ hochgedrückt werden sollten. Die Ärzte sollten für 35 000 Patienten neue Rezepte der verhältnismässig teuren Blutdrucksenker ausstellen. Als Anreiz wurde den Ärzten dafür angeboten, pro Patient einen Fragebogen mit sogenannten Anwendungs-Beobachtungen (AWB) auszufüllen. Dafür gab es dann 50 Euro. Nachdem das Vorgehen bekannt wurde, hat Novartis in Deutschland eine Untersuchung des «Vereins Freiwillige Selbstkontrolle der Arzneimittelindustrie» am Hals. Der von der Industrie ins Leben gerufene Verein soll die korrekte Zusammenarbeit der pharmazeutischen Unternehmen mit den Ärzten im Auge behalten. Der Geschäftsführer, Michael Grusa, bestätigt, dass derzeit zum Gebaren von Novartis in Bezug auf AWB eine Untersuchung durchgeführt werde. «Das Ergebnis steht noch aus.» Im schlimmsten Fall drohen Novartis nebst der Peinlichkeit kleine Bussen.
Verbreitet in der Schweiz
Der Pharmakonzern hält auf Anfrage entgegen, sich beim Einsatz der Anwendungs-Beobachtungen im Rahmen der legalen Vorgaben zu bewegen. Novartis setze auf Transparenz. So lege man die Unterlagen einer AWB traditionell komplett vor - beim deutschen Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, bei der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und zusätzlich bei den Spitzenverbänden der Krankenkassen. Gesetzlich sei dagegen lediglich ein Meldebrief gefordert, schreibt der Konzern. Tatsächlich ist der Versuch, über Umfragen unter Ärzten Erfahrungen über den Einsatz von Medikamenten im Praxisalltag zu erfassen, nicht verboten und auch nicht anstössig. Der Einsatz von AWB ist auch in der Schweiz weit verbreitet und läuft hier unter dem Namen Praxis-Erfahrungsbericht (PEB). Doch die Industrie nutzt diese Möglichkeit (siehe nebenstehenden Kasten) intensiv als Marketinginstrument. Mehrere Schweizer Hausärzte berichteten Ähnliches: Die Angebote der Pharmavertreter, mittels PEB das Ausstellen von Rezepten zu vergüten, hätten in den letzten Jahren stark zugenommen. Denn viele Ärzte wollten die Pharmavertreter gar nicht mehr empfangen, und der finanzielle Anreiz wirke dem entgegen. Die gebotene «Aufwandsentschädigung» für das Ausfüllen eines Fragebogens liege zwischen 50 und 100 Franken pro PEB. Alle befragten Ärzte sehen die Stossrichtung ganz klar: «Die Qualität der Umfragen ist fragwürdig. Es geht nur darum, einen Patienten auf ein neues Medikament umzustellen. Ist das einmal passiert, bleibt es meist dabei.» Diese Einschätzung teilen offenbar viele kantonale Ethikkommissionen. Die Kommissionen haben eine Überwachungsfunktion bei der Zulassung von klinischen Studien (am Menschen) durch die Pharmaindustrie. Die Präsidentin der Ethikkommission des Kantons Aargaus, Elisabeth Grimm Bättig, sieht in der Verquickung von Umfragen zu Patienten-Verhalten, Wirkung von Medikamenten und Marketing-Interessen ein echtes Problem: «Das Ausmass ist in der Schweiz nicht bekannt, da PEB nicht der Bewilligungspflicht durch die Aufsichtsbehörden unterstehen.» Zur Klärung der effektiven Situation seien systematische Untersuchungen notwendig, fordert Grimm, denn «wenn die PEB die Umstellung auf neuere und oft auch teurere Medikamente zulasten der Krankenkassen begünstigen, ist es eigentlich ein Skandal». Georg Kreienbühl, Präsident der Ethikkommission des Kantons St. Gallen, hält fest: «Praxis-Erfahrungsberichte sind keine wissenschaftlichen Studien. Man muss sie als Marketinginstrumente der Pharmaindustrie bezeichnen.» Spätestens seit dem Urteil der Eidgenössischen Rekurskommission für Heilmittel vom 1. April 2005 zum Thema PEB hat diese Haltung offiziellen Sukkurs.
Schönes Zubrot für Ärzte
Anonym bestätigen dies auch Marketingspezialisten der Pharmakonzerne. Ein ehemaliger Marketingmitarbeiter eines internationalen Pharmaunternehmens in der Schweiz sagt: «PEB sind das Mittel, um ein Produkt in den Markt zu drücken. Jede Firma lanciert ihr neues Produkt mit einem PEB. Danehmen die Marketingabteilungen auch siebenstellige Summen in die Hand.» Von der Behauptung der Pharmaindustrie, man erhebe relevante Daten aus dem Patienten-Alltag, hält er wenig: «Mit Forschung hat das nichts zu tun. Es wird den Verkäufern klar gesagt, PEB seien das beste Mittel, um ein Produkt beim Arzt zu verankern.» Für die Ärzte könne das Ausfüllen der Fragebögen ein interessantes Zubrot bilden. Der Aufwand zum Ausfüllen sei meist klein, führt der Insider aus. Oft müsse man nur fünf allgemeine Fragen ankreuzen und dafür erhalte man 100 Fr. «Wenn man das in einer Allgemeinpraxis bei 10 Patienten pro Woche macht, hat man 1000 Franken verdient. Ein Arzt kann so im Laufe des Jahres mehrere 1000 Franken dazuverdienen», rechnet er vor. Niklaus Herzog, Sekretär der Ethikkommission des Kantons Zürich, hat in den letzten zwei Jahren rund 50 Anfragen von Pharmaunternehmen bezüglich PEB auf dem Tisch gehabt. Die Konzerne wollten sich bei Herzog absichern, dass ihre Umfragen nicht als Studie gelten und deshalb auch nicht der Ethikkommission vorgelegt werden müssten. Auch Herzog kommt aufgrund dieser Einsichten zum Schluss: «Es geht bei den Umfragen klar um Marketing.» Die Anfragen kommen laut Herzog von den Grossen bis hin zu den Nischenanbietern. Die Klagen aus der Ärzteschaft und den Ethikkommissionen, die den exzessiven Einsatz von PEB als verbotene Schleichwerbung taxieren, sowie das Urteil der Rekurskommission haben das Heilmittelinstitut Swissmedic auf den Plan gerufen. Seit über einem Jahr versucht die Aufsichtsbehörde nun, mit der Pharmaindustrie einvernehmlich eine neue Verordnung zurechtzuzimmern. Die soll eine klare Abgrenzung ziehen zwischen wissenschaftlichen Phase-IV-Studien, PEB und Werbung. Swissmedic-Sprecher Jean-Christoph Meroz bestätigt: «Praxis-Erfahrungsberichte werden öfter missbraucht. Das ist unbestritten.» Eine Einigung ist noch nicht in Sicht. Die Pharmaindustrie plädiert wie immer auf Selbstregulierung. Welchen Stellenwert die PEB als Forschungsdaten haben, belegt die Antwort von Pfizer, dem weltgrössten Pharma-Verkäufer, auf eine Anfrage der «NZZ am Sonntag». Pfizer-Pressesprecher Jouni Epper sagt: «Pfizer führt keine Praxis-Erfahrungsberichte durch. Sie entsprechen nicht unseren Qualitätsansprüchen. Zur Erhebung von wissenschaftlichen Daten nach der Markteinführung unserer Medikamente führen wir Phase-IV-Studien nach den international gültigen Richtlinien, GCP, Good Clinical Practice, durch.»
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