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Der „Fall Kolumbien“ im Europaparlament
26.09.2008 | 19:12 Uhr

Interview mit Bruno Rütsche, Repräsentant aus der Schweiz am Ständigen Völkertribunal

Von Sergio Ferrari (Pressedienst E-CHANGER)

Mitte September, vom 15.-17. Sept., wird der „Fall Kolumbien“ die Aufmerksamkeit des Europaparlamentes beschäftigen. An seinem Sitz in Brüssel wird ein Internationales Meinungstribunal die Initiative weiterführen, welche im Juli 2008 in Bogotá lanciert wurde. Am 23. Juli hatte das Ständige Völkertribunal Kolumbien und seine Regierung wegen Menschenrechtsverletzungen verurteilt. Ebenso wurden zahlreiche multinationale Unternehmen, darunter vier Konzerne mit Sitz in der Schweiz, aufgrund ihrer Geschäftstätigkeit in Kolumbien verurteilt. Bruno Rütsche lebte zwischen 1983-86 in Kolumbien. Heute ist er Fachstellenleiter der Arbeitsgruppe Schweiz-Kolumbien ask. Er amtierte als „Richter“ bei der Session Kolumbien des Ständigen Völkertribunals und bezeichnet sich selber als „sozialer und Menschenrechtsaktivist“. Zusammen mit ihm nahmen der Friedensnobelpreisträger von 1980, Adolfo Pérez Esquivel, Präsident des Richtergremiums, sowie der belgische Soziologe François Houtart, der französische Kassationsrichter Philippe Texier und weitere Persönlichkeiten aus der ganzen Welt teil. Exklusivinterview.

Worin besteht diese Initiative in Bezug auf Kolumbien, die im Europaparlament durchgeführt werden soll?

Sie soll über die Entscheide des Kapitels Kolumbien des Ständigen Völkertribunals informieren sowie eine breitere Öffentlichkeit und Entscheidungsträger sensibilisieren. Das Ständige Völkertribunal ist ein Meinungstribunal und will politischen Einfluss nehmen. Es behandelt und verurteilt Verbrechen gegen die Menschlichkeit, für die andere Gerichte nicht zuständig sind.

Nach mehreren vorbereitenden öffentlichen Anhörungen und thematischen Tribunalen wurde das Kapitel Kolumbien mit der Schluss-Session an der Nationaluniversität in Bogotá vor einem eindrücklichen Publikum von rund 2‘500 Personen abgeschlossen.







Warum werden diese Urteile jetzt von einem Meinungstribunal im Europaparlament wieder aufgenommen?

Viele der über 30 angeklagten multinationalen Unternehmen haben ihren Hauptsitz in Europa. Mit dem Meinungstribunal in Brüssel soll versucht werden, ein Bewusstsein zu schaffen, dass die Wirtschaftspolitik dem internationalen Recht unterstellt werden muss. Internationale Menschenrechtsnormen sollen auch für multinationale Unternehmen verbindlich und einforderbar sein. Die Multis, die in verschiedenen Ländern der Welt tätig sind, sollen die Gesetze ihres Hauptsitzlandes überall einhalten müssen. Tun sie dies nicht, könnten sie aufgrund der im Land ihres Hauptsitzes geltenden Rechtsnormen abgeurteilt werden.

Straflosigkeit der Multis

Bedeutet das Urteil des Ständigen Völkertribunals, dass die Multis in Kolumbien die Macht haben, zu tun was sie wollen?

In gewisser Weise ist das so. Eine der wichtigsten Schlussfolgerungen des Tribunals geht in diese Richtung. Die Multis setzen ihre Bedingungen gegenüber dem Staat durch und nutzen den Staat für ihre Geschäfte aus: Sie missachten Gesetze – selbst die Verfassung von 1991 – und üben Druck aus, damit für sie vorteilhafte Gesetze erlassen werden. Zudem ist die Aggressivität des Vorgehens der Multis zur Erhöhung ihrer Gewinne absolut klar sichtbar. Sie schrecken auch nicht davor zurück, die Rechte der indigenen Völker, der Bauernfamilien, der Arbeitenden und der Gewerkschaften zu verletzen. Zudem herrscht völlige Straflosigkeit…

Kannst du ein Beispiel geben?

Das Tribunal hat aufgrund einer umfangreichen und umfassenden Dokumentation nachweislich feststellen können, dass das Bergbaugesetz Kolumbiens u.a. von Ex-Direktoren von privaten Bergbauunternehmen ausgearbeitet wurde. Das Gesetz verletzt in vielen Punkten die Rechte der Völker. Ebenso wurde völlig klar, dass die Gier der Multis, welche die Plünderung Kolumbiens in den letzten 20 Jahren enorm ausgeweitet haben, keine Grenzen kennt. In vielen Fällen sind Multis verantwortlich oder mit-verantwortlich für einen Grossteil der Vertreibungen von mehr als 4 Mio. Menschen auf dem Land in den letzten 20 Jahren. Es gibt auch eine Mittäterschaft bei der Ermordung von 4‘000 Gewerkschaftern – ebenfalls in den letzten 20 Jahren – denn von Seiten der Multis ist keine einzige energische Verurteilung dieser Verbrechen bekannt. Vielmehr haben sie von dieser gewerkschaftsfeindlichen Politik profitiert. Andrerseits sind 28 indigene Völker allein in Kolumbien aufgrund dieser aggressiven Politik – deren Ziel die Landnahme und die Übernahme der indigenen Territorien ist – vom Aussterben bedroht. All dies ist breit dokumentiert und belegt. Das Urteil der Anhörung in Atanquez über den Genozid an den Indigenen, ebenfalls im Juli 2008, umfasst über 20 Seiten. Dazu kommen viele Hundert Seiten an Dokumenten, die von den betroffenen Völkern, Gemeinschaften und Organisationen beim Tribunal eingereicht und von diesem eingesehen wurden.

Die Schweizer Multis mit von der Partie

Hat es unter den verurteilten Multis auch solche mit Sitz in der Schweiz?

Ja, es sind vier Multis aus der Schweiz: Nestlé, Holcim, Glencore und Xstrata.

Worin bestehen die Verletzungen, die diesen Multis angelastet werden?

Der Fall Nestlé hat öffentlich viel Aufsehen erregt. Er wurde in Kolumbien von den Medien breit aufgegriffen, denn es handelt sich um einen Nahrungsmittelmulti, dessen Produkte in jedem Geschäft präsent sind. Zudem gab es Morde an Gewerkschaftsführern von Nestlé, die aktiv an Arbeitskonflikten beteiligt waren oder diese begleitet hatten. Diese Morde sind bis heute nicht aufgeklärt. Nestlé wird auch für Gewässerverschmutzung und weitere Umweltverschmutzungen verantwortlich gemacht.

Glencore ist weniger bekannt, sowohl in Kolumbien wie auch in der Schweiz. Glencore hat kürzlich die Erdölraffinerie in Cartagena gekauft – diese war bis anhin in den Händen der staatlichen Erdölförderfirma Ecopetrol – und besitzt auch Kohleminen in verschiedenen Gebieten des Landes. Glencore wurde vor allem wegen ihrer gewerkschaftsfeindlichen Politik und wegen fehlender Sensibilität für soziale Belange angeschuldigt. Zudem sind einige Bergbauregionen, in denen Glencore präsent ist, durch die hohe Präsenz von Paramilitärs bekannt. Verbindungen sind da denkbar.

Xstrata besitzt einen Drittel der Kohlemine Cerrejón. Xstrata war Nutzniesserin der Vertreibung mehrerer Dörfer von Afrokolumbianern. Dies erlaubte die Erweiterung der Kohleförderung im Tagbau. Bis heute sind weder die Entschädigung noch die Umsiedlung der betroffenen Gemeinschaften geregelt.

Zementhersteller Holcim baut auf Stadtgebiet von Bogotá Sand ab, was zu Gewässerverschmutzungen und zu einer grossen Umweltbelastung führt. Auch sind einige Armenviertel Bogotás durch diesen Sandabbau gefährdet, und er hat negative Auswirkungen auf die Gesundheit der Menschen. Zudem war ein ehemaliger Direktor von Holcim bei der Ausarbeitung des neuen Bergbaugesetzes beteiligt. Dies alles ist nur ein kleiner Teil der vom Tribunal analysierten Ereignisse …

Diesen Sommer erregte in der Schweiz der Fall der privaten Sicherheitsfirma „Securitas“ grosses Aufsehen. Securitas schleuste vor einigen Jahren im Auftrag von Nestlé eine Agentin in die globalisierungskritische Bewegung ATTAC ein. Hatte das Tribunal von diesem Fall Kenntis?

Ja. Diese Information war dem Tribunal bekannt, wie auch die gesamte Dokumentation, welche Multiwatch über den Fall Nestlé erarbeitet hatte. Die Information über die Bespitzelung löste in Kolumbien grosses Erstaunen aus. Man konnte kaum glauben, dass so etwas in der Schweiz geschehen könnte. Die Information über die Bespitzelung wurde in die Dokumentation des Tribunals aufgenommen.

Kehren wir zum Ausgangspunkt unseres Gesprächs zurück. Könnte man sagen, dass das Urteil des Tribunals sehr energisch war?

So ist es. Nicht nur der kolumbianische Staat und die aktuelle Regierung wurden verurteilt, sondern auch die Verantwortlichkeit einiger heute in Kolumbien tätigen multinationalen Unternehmen wurde exemplarisch verurteilt. Ich glaube, dass dieses Urteil einen ganz besonderen Wert hat. Es entlarvt die weltweit aggressive neoliberale Politik am konkreten Beispiel Kolumbiens. Man darf nicht vergessen, dass diese Politik in Kolumbien vom IWF, der Weltbank und der WTO unterstützt und gefördert wurde und wird.

Werden die Urteile des Ständigen Völkertribunals ausser ans Europaparlament auch an andere internationale Instanzen gesandt?

Die Resolutionen und Urteile, die Grundlagendokumente und eine Auflistung weiterer Dokumente und vorgebrachter Anschuldigungen werden an den Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof, den Internationalen Strafgerichtshof und die verschiedenen UNO-Instanzen geschickt. Zudem wird überlegt, in absehbarer Zeit einen Internationalen Strafgerichtshof für Wirtschaftsverbrechen zu schaffen. Auch ist es dem Tribunal ein Anliegen, gegen die Straflosigkeit zu kämpfen, welche bei all den vorgebrachten Fällen praktisch total ist, egal ob für die Menschenrechtsverletzungen direkt der Staat oder die grossen Multis verantwortlich sind. Letztlich ist es das Ziel des Tribunals, multinationale Unternehmen direkt vor UNO-Instanzen anklagen und aburteilen zu können, wenn ihnen – wie im Fall von Kolumbien – die Verletzung von Menschenrechten, sozialen und kulturellen Rechten nachgewiesen werden kann.

Ein unerbittliches Tribunal

Sechs Richter waren hochrangige lateinamerikanische Persönlichkeiten. Nebst dem Friedensnobelpreisträger Adolfo Pérez Esquivel gehörten dem Richtergremium die Juristen Dalmo de Abreu Dallari aus Brasilien, Marcelo Ferreira aus Argentinien und Vilma Nuñez de Escorcia aus Nicaragua an. Zudem waren die indigenen Völker im Richtergremium durch Lorenzo Muelas Hurtado aus Kolumbien und Juana Manquecura Aillapan aus Chile vertreten.

Weitere sechs Richter kamen aus Europa. Neben Bruno Rütsche aus der Schweiz und François Houtart aus Belgien, waren dies Philippe Texier, Richter am Kassationsgericht von Frankreich und Präsident des UNO-Komitees für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, sein italienischer Kollege Franco Hipólito, wie auch der spanische Professor Antonio Pigrau Solé und der italienische Arzt und Generalsekretär des Ständigen Völkertribunals, Gianni Tognoni.

Das 54 Seiten umfassende Schlussurteil ist unerbittlich und enthält zahlreiche Verurteilungen. Die Regierung wird in acht Punkten angeklagt, darunter der Verletzung der Arbeitsrechte, der zivilen, politischen, sozialen und kulturellen Rechte, wie auch „der direkten und indirekten Beteiligung durch Aktion oder Unterlassung“ bei Praktiken von Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, etc. Das Urteil umfasst auch die paramilitärischen Verbände.

Das Tribunal verurteilt zudem über 30 multinationale Unternehmen – sowohl deren Hauptsitze und Zweigniederlassungen in Kolumbien – darunter Coca Cola, Chiquita Brands, Multifruit (Tochterunternehmen von Del Monte), Aguas de Barcelona, Telefónica, Canal de Suez, Nestlé, Glencore, Xstrata, Anglo American, BHP Billiton, Monsanto, Repsol YPF, Unión Fenosa, Endesa, Holcim, etc. aufgrund „schwerer und massiver Verletzungen der Arbeitsrechte, insbesondere des Rechtes auf Gewerkschaftsfreiheit, der Missachtung der Würde und des Lebens von Arbeitenden und deren Gemeinschaften…“, wie auch wegen „Betrug an ihren Aktionären“, „Mitbeteiligung an der Umweltzerstörung in Kolumbien“, „Verletzung des kollektiven Rechtes auf Erde“ und ihrer Mitverantwortung bei Praktiken des Genozids, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, etc.

Das Urteil umfasst auch „die Staaten, in denen diese Firmen ihren Hauptsitz haben“, wie auch die US-Regierung wegen „ihrer entschiedenen Mitbeteiligung bei der Ausarbeitung, Aufrechterhaltung und Umsetzung der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Pläne und der Straflosigkeit der angeklagten Verbrechen“. Im Urteil werden zudem der IWF, die Weltbank und die WTO wegen ihrer Verantwortung für „die Zunahme der sozialen Ungleichheit…und der rechtlichen Unantastbarkeit der multinationalen Unternehmen“ angeklagt.

Bruno Rütsche
Arbeitsgruppe Schweiz-Kolumbien ask
Fachstelle Frieden und Menschenrechte
Postfach 7004
CH- 6000 Luzern 7 / SCHWEIZ
Tel. / Fax 00 41 41 210 64 68
e-mail: fachstelle.luzern@askonline.ch
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