22.08.2013
Der deutsche Philosoph Ernst Bloch macht in seinem Hauptwerk, «Das Prinzip Hoffnung», die rätselhafte Bemerkung: «Vorwärts zu unseren Wurzeln». Wohl niemand hat Blochs Aufruf so nötig wie die Sozialdemokratischen Parteien. Die deutsche SPD, die in diesem Jahr ihren 150. Geburtstag feierte, genauso wie die Schweizer SPS im heutigen 125. Jahr ihres Bestehens. Denn beide Parteien sind, gemessen an den historischen Ansprüchen ihrer Gründerinnen und Gründer, zu weitgehend sinnleeren Wahlvereinen verkommen.
DER ROTE KAISER. Am 13. August 1913 gegen acht Uhr morgens wurde August Bebel in seinem Zimmer im Kurhaus von Passugg bei Chur von seiner Tochter Frieda tot aufgefunden. Der 73jährige war an völliger Erschöpfung gestorben. Bebel hatte 1869 die marxistische Sozialdemokratische Arbeiterpartei mitbegründet, eine der Vorläuferinnen der SPD. Er wurde zu ihrer unumstrittenen Führungsfigur. International verehrt und bekämpft. Stets standfest. Der «rote Kaiser», wie ihn die Berliner Presse nannte.
Einen Tag nach seinem Tod kam der Sarg im Bahnhof Zürich an. In einem feierlichen Umzug wurde er ins Volkshaus zur Aufbewahrung übergeführt. Mehr als 60 000 Menschen säumten die Strassen. Am 17. August wurde Bebel auf dem Friedhof Sihlfeld begraben: 800 Kranzträger, 200 rote Fahnen, Tausende Trauernde aus der ganzen Welt, darunter Rosa Luxemburg, Clara Zetkin, Viktor Adler, Karl Kautzky und Karl Liebknecht. Zu Bebels 100. Todestag sprachen die heutigen Parteipräsidenten Christian Levrat (SPS) und Sigmar Gabriel (SPD) am 13. August an Gedenkfeiern auf dem Friedhof und im Volkshaus. «Hier liegen unsere Wurzeln», sagte Levrat. Und Gabriel: «Wir stehen auf den Schultern eines Riesen.»
AM SAUM DER ZEIT. Bebels Tod am Vorabend des Ersten Weltkriegs steht im Zentrum eines faszinierenden Dramas, das der Bündner Schriftsteller Hans Peter Gansner soeben veröffentlichte. Sein Titel: «Am Saum der Zeit.» Gansner wird im Rahmen einer Bebel-Ausstellung im Zürcher Friedhofsforum Sihlfeld am 17. Oktober daraus vorlesen. Kapitalismus ist gleichbedeutend mit Unterdrückung, Ausbeutung, Erniedrigung und Krieg, meinte Bebel. Mit der herrschenden Oligarchie und ihrem Wirtschaftssystem müsse radikal gebrochen werden. Die «Selbstbefreiung» der arbeitenden Menschen (und der kolonialen Völker) war das Ziel. Bebel: «Es gibt kein Später. Wenn die Genossen umfallen, ist Krieg.» Im August 1914 fiel seine Partei um und stimmte im deutschen Reichstag für Kaiser und Kriegskredite. Bebels französischer Genosse Jean Jaurès wurde am 31. Juli 1914 in Paris ermordet. Ich bin überzeugt: Hätten die Pazifisten Bebel und Jaurès ein paar Jahre länger gelebt, gelehrt und gekämpft, wäre Europa die Schlächterei des Ersten Weltkriegs (und damit wohl auch des Zweiten) erspart geblieben.
Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor. Sein neuestes Buch, «Wir lassen sie verhungern», ist im September 2012 auf deutsch erschienen.
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